Im Gespräch mit Pfarrer Dirk Spornhauer über die Ausgrabung an der evangelischen Kirche in Raumland

von Anna Siegemund

Der evangelischen Kirche in Raumland, einem Stadtteil von Bad Berleburg, geht eine weitreichende Geschichte voraus: bereits im 9. Jahrhundert erfolgte die Gründung der Urpfarrei, die man zeittypisch dem Heiligen Martin weihte. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfolgte dann der Bau der heute noch bestehenden sogenannten Bonifatiuskirche im Stil der südwestfälischen Hallenkirchen.

Pfarrer Raumland kleinSie ist damit der älteste erhaltene Bau ihrer Art, darüber hinaus beherbergt ihr Dachreiter das älteste zusammenhängende Geläut Westfalens – die in Hessen gegossenen Glocken stammen aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Seit 2001 bekleidet der gebürtige Siegener Dirk Spornhauer (Jahrgang 1963) hier das Amt des Pfarrers.

Angestoßen durch einen Zufall wurden 2010 spannende Kapitel der Raumländer Kirchengeschichte erschlossen. Zu dieser Zeit führten anstehende Bauarbeiten zu Notgrabungen durch die Archäologen des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL). Pfarrer Spornhauer begleitete damals die Arbeiten mit großem Interesse und erklärte sich bereit, mit mir ein Gespräch über die Ausgrabung zu führen. Später begleitete Dirk Spornhauer mich durch die Kirche, um mir die Ergebnisse der Ausgrabungen darzulegen und damit einen Einblick in die Vergangenheit des Ortes zu gewähren, der Stätte von gleich drei mittelalterlichen Sakralbauten gewesen ist.

Der Grund für die Ausgrabungen in der und um die heutige Kirche sei äußerst profan gewesen, erläuterte Dirk Spornhauer: die Heizungsanlage der Gemeindebauten musste erneuert werden. Derartige Arbeiten im Umfeld denkmalgeschützter Bauwerke bedeuten jedoch immer intensive Vorbereitungen. Der LWL musste bereits ein Jahr im Voraus in die Planungen einbezogen werden, um den Landesarchäologen die Möglichkeit zur Sichtung und Dokumentation historischer Überreste zu ermöglichen. Diese sogenannte Notgrabung brachte auch tatsächlich aussagekräftige Befunde zum Vorschein, die weitere Ausgrabungen und Entdeckungen anstießen.

Zunächst stieß man unter den Bodenplatten im Norden des Kirchenraumes auf Sargreste und Knochen, die insgesamt sechs Bestattungen zuzuordnen waren. Nun stellen Bestattungen im Inneren einer Kirche, bedingt durch die Beerdigungspraxis in Mittelalter und Früher Neuzeit, zunächst nichts Ungewöhnliches dar. Zwei Besonderheiten erregten dennoch die Aufmerksamkeit der Archäologen und auch Pfarrer Spornhauers: zum einen lagen gleich vier der sechs Gräber unterhalb des Fundaments der heutigen Kirche – damit mussten sie in eine Zeit vor der Erbauung datieren; zum anderen irritierte ihre Ausrichtung, diese wich etwa 10° von der Kirche ab.

Die Vermutung, dass die Gräber zum Hof einer früheren Kirche gehörten, wurde schnell bestätigt, als man im Westen des Kircheninneren, gegenüber dem Chor auf breite Mauerreste stieß. Diese konnten als Reste des Chores des Vorgängerbaus interpretiert werden. Angespornt durch diesen Fund nahmen die Archäologen nun auch Grabungen außerhalb der Kirche vor, dort, wo man auf Grundlage der Funde im Inneren und alter Aufzeichnungen weitere Grundmauern vermutete. Tatsächlich: man hatte den richtigen Ort gewählt und konnte einen kompletten Mauerstrang von ca. 4 Metern freilegen. Die Annahme, dass man innen zuvor den Chor der alten Kirche gefunden hatte, bestätigten sich durch die neuen Befunde; die Eingabe der Ausgrabungspunkte via GPS in ein Koordinatensystem machte nun die Struktur der vorherigen Kirche erkennbar. Bei dieser handelte es sich um eine hochmittelalterliche Saalkirche aus dem 11. Jahrhundert, die also etwa 250 Jahre älter war als die heutige Bonifatiuskirche.

Es stellt sich automatisch die Frage, warum sich der Chorraum der älteren Kirche innerhalb der neuerrichteten befand. Diesbezüglich konnte Dirk Spornhauer eine Vermutung anstellen. Zwar gebe es keine Belege für diesen Ansatz, erklärte er, aber es liege nahe, dass das Herzstück der Kirche – der Chorraum, in dem die Messen gefeiert werden und von wo aus die Predigt erfolgt – so lang wie möglich erhalten bleiben sollte. So stand dieser Teil der Kirche den Gläubigen noch während der Bauarbeiten an der neuen Kirche zur Verfügung, während andere Teile bereits abgerissen wurden. Dadurch konnten zugleich die Steine der alten Kirche wiederverwendet werden, ohne die Feier der Messe in der Zeit des Umbaus zu gefährden. Erst als der neue Chorraum fertiggestellt war, habe man demnach den alten abgerissen und die neue Kirche vollendet.

Die Grabungen auf dem heutigen Kirchhof förderten jedoch noch einen weiteren Befund zutage: die unterste Schicht einer lediglich aus Lehm und Bruchstein bestehenden Mauer, die noch älter ist als die Grundmauern der hochmittelalterlichen Saalkirche. Damit könnte es sich um die Fundamente einer dritten Kirche handeln, also desjenigen Bauwerks, welches in das 9. Jahrhundert und damit in die karolingische Gründungszeit der Pfarrei Raumland datiert. Als fiktives Gründungsdatum wird zumeist das Jahr 807 angegeben, welches sich aus der überlieferten Amtszeit des Fuldaer Abtes Ratgar (802-817) ergibt. Die explizite Erstnennung erfolgte jedoch in einer Urkunde von 1059.

Spornhauer lenkte im Gespräch allerdings den Blick noch einmal auf die zweite Kirche aus dem 11. Jahrhundert und betonte die Aussagekraft für die Geschichte des Standortes Raumland. Um das Jahr 1000 erbaute man neben der Raumländer Martinskirche in der direkten Umgebung noch weitere derartige Saalkirchen, so beispielsweise in Girkhausen und Wingeshausen. Im direkten Vergleich sticht Raumland jedoch heraus: wiesen die anderen beiden Kirchen eine Grundfläche von 44 bzw. 50 m² auf, waren es hier beachtliche 112 m²! Damit lassen allein die Größenverhältnisse auf die große Relevanz der Pfarrei im Früh- und Hochmittelalter schließen. Zudem verweisen die Untersuchungen der Bausubstanz auf die zum Erbauungszeitpunkt bereits bestehenden regionalen und Fernhandelswege. So war etwa der verwendete Mörtel mit Kalk angereichert, der in der direkten Umgebung nicht vorkam und entsprechend importiert werden musste. Auch das Geld und die verwaltungstechnischen und logistischen Voraussetzungen einer solchen Baustelle zur Errichtung einer großen Kirche mussten bereits gegeben sein. Dementsprechend lassen die Befunde auch indirekt auf den Gründungsbau des 9. Jahrhunderts schließen. Ein solcher musste vor der Errichtung einer Großkirche bestanden haben, da bereits die frühen Gläubigen einen Ort zur Feier des Gottesdienstes und zur Bestattung benötigten. Zu erwarten wäre ein in kurzer Zeit errichteter Bau aus den Materialien der Umgebung, nämlich Holz, Bruchstein und Lehm – was wieder auf den gefundenen Rest der in Lehm und Stein ausgeführten Mauer verweist.

Der rekonstruierte Grundriss der Saalkirche ermöglicht zudem Rückschlüsse bezüglich der zuerst aufgefundenen Gräber innerhalb der heutigen Kirche und der bemerkenswerten Abweichung ihrer Ausrichtung. Auch die hochmittelalterliche Kirche war, wie die meisten mittelalterlichen Kirchen, in Ost-West-Richtung erbaut, sodass der Altar in Richtung des Sonnenaufgangs und der Stadt Jerusalem aufgestellt war. Jedoch wies sie, genau wie die ihr zugeordneten Gräber, ebenfalls eine Verschiebung um etwa 10° zur heutigen Kirche auf. Dieser kleine, für Spornhauer und das Ausgrabungsteam fundamentale Aspekt lässt sich wiederum nur durch eine Vermutung erklären. Spornhauer verweist diesbezüglich darauf, dass bereits die Tempel in Ägypten ein Fenster hatten, durch welches das Licht an einem ganz bestimmten Tag, dem Tag der Wintersonnenwende, eintrat. Ähnlich verhielt es sich mit den geosteten Kirchen des Mittelalters, die jeweils einem spezifischen Heiligen geweiht waren und so ausgerichtet sein konnten, dass am Tag des Heiligen bei Sonnenaufgang das Licht durch ein bestimmtes Fenster fiel. Dass die neue Kirche nun anders ausgerichtet war, lässt für Spornhauer den Rückschluss zu, dass man einen Patrozinienwechsel vorgenommen haben könnte – die neue Kirche also einen anderen Heiligentag ‚anpeilte‘ als ihre Vorgängerin. Dieser Wechsel bleibt aber aufgrund fehlender Befunde bislang Spekulation.

Auf die Frage, welcher Aspekt der Grabung ihn besonders fasziniert habe, antwortet Pfarrer Spornhauer, dass es die Möglichkeit sei, die ans Licht kommenden Befunde immer wieder in neue Kontexte der Geschichte der Kirche setzen zu können, die wiederum immer neue Theorien über den Ort zulassen. Diese Rückschlüsse seien es, die ihn langfristig faszinierten. Die Ausgrabung betone zudem die historische Bedeutung, die der Raumländer Kirche im Lauf der Geschichte für die gesamte Region zukam und für die bislang lediglich wenige schriftliche Hinweise existierten. Die bereits bestehenden Annahmen darüber konnten nun durch die Ausgrabung belegt werden.

(2021)