Kaufmann, Kavallerist im Ersten Weltkrieg, Nationalsozialist, Familienvater

von Melissa Brigitte Schleining

Abb. 1 Walter Wienand im Ersten Weltkrieg bei der Reserve Kavallerie Abteilung 48 in Galizien 1916
Walter Wienand im Ersten Weltkrieg bei der Reserve-Kavallerie-Abteilung 48 in Galizien 1916
 

Während der Corona-Pandemie habe ich beim Aufräumen des Kellers alte Dokumente meines Urgroßvaters gefunden. Mir wurde klar, dass ich nichts über diesen Mann und sein Leben weiß. Das möchte ich jedoch mit der Arbeit an diesem Artikel ändern. Ich möchte herausfinden, wer er war, wie sein Leben aussah und dazu zunächst einmal sein Leben anhand der Dokumente, Bilder und Briefe rekonstruieren. Außerdem möchte ich herausfinden, wie in meiner Familie mit der nationalsozialistischen Vergangenheit meines Urgroßvaters umgegangen wurde, ob und wie darüber gesprochen wurde. Alles, was meine Großmutter über ihren Vater erzählte, war positiv. Er scheint aber auch ein überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein: Wie passt das zusammen?

Auf all diese Dinge möchte ich mit folgendem Artikel Antworten finden und versuchen, mir ein Bild von meinem Urgroßvater zu machen und zu verstehen, warum er getan hat, was er getan hat.


Kindheit und Jugend

Walter Karl Friedrich Wienand wurde am 23. Januar 1890 als Sohn des Kaufmanns Gustav Wienand und Wilhelmine, genannt Mina, König in Iserlohn geboren. Er hatte vier Brüder und eine Schwester, über die ansonsten nichts bekannt ist. Auch über seine Kindheit und Jugend können wir heute nicht mehr viel sagen.

Vermutlich beendete er mit 16 Jahren die Schule und begann dann am 15. Februar 1907 eine Ausbildung zum Kaufmannsgehilfen in Brüssel, mit der er in die Fußstapfen seines Vaters trat. Zwei Jahre später, nach Beendigung der Ausbildung, ging er zurück ins Sauerland und arbeitete zunächst als Expedient und Lagerist bei der Moritz Ribbert Actiengesellschft in Hohenlimburg und ein Jahr später bei der Dahlhaus & Co Maschinenbauanstalt für Eisengießerei in Iserlohn.

Am 1. April 1911 kam er dann schließlich nach Meggen, wo er die nächsten 34 Jahre bei der Sachtleben A.G., zunächst als Korrespondent und Buchhalter, nach dem Krieg als Materialverwalter arbeiten würde. In Meggen lernte er schließlich auch 1913, irgendwann vor Pfingsten, Maria Lenze kennen – meine Urgroßmutter. Die beiden verliebten sich ineinander und Maria verließ ihren damaligen Verehrer für Walter.

Abb. 4 Walter Wienand bei seiner Arbeit fr die Sachtleben A.G
Walter Wienand bei seiner Arbeit für die Sachtleben A.G.
 

Erster Weltkrieg

Viel Zeit blieb dem jungen Paar zunächst allerdings nicht zusammen. Im Juli 1914 brach in Europa der Erste Weltkrieg aus und bereits knapp vier Monate später, am 20. November, trat der damals 24-jährige Walter seinen Dienst als Ersatz-Rekrut in der Reserve-Kavallerie-Abteilung 48 an. Ihnen blieb in den folgenden vier Jahren, bis auf einen Heimaturlaub vom 6. bis 24. Juli 1918, nur der Kontakt über die Feldpost.

Mit der Reserve-Kavallerie-Abteilung 48 kam Walter an die Ostfront, wo er vom 15. April 1915 bis zum 30. November 1916 an Kämpfen in den Karpaten und Galizien, an und zwischen Gnila Lipa, Zlota Lipa sowie der Stypa und seit dem 1. September 1916 schließlich an den Stellungskämpfen an der Bystrzyca und Solotwincka teilnahm. Außerdem war er seit Februar 1916 auch als Schreiber für die 48. Reserve-Kavallerie-Abteilung tätig. Von dort aus wechselte er zum Westfälischen Ulanen-Regiment Nr. 5, welches ebenfalls an der Ostfront stationiert war und eine Woche später, am 7. Dezember 1916, zum Ersatz-Eskadron-Dragoner-Regiment Nr. 6. Außerdem wurde er am 14. Juli 1916 zum Unteroffizier befördert.

Im März 1917 wechselte Walter schließlich zunächst zur 4. Ersatz-Maschinengewehr-Kompanie XVIII A.K. und von dort aus im Mai zum Maschinengewehr-Scharfschützen-Ausbildungs- Kommando West des II. Bataillon. Dort war er ebenfalls bis zum 11. November 1918, also bis zum Kriegsende, Bataillonsschreiber. Am ersten Oktober 1917 unternahm er dann seinen letzten Wechsel, vom Ausbildungskommando in die 6. Kompanie der Maschinengewehr-Scharfschützen. Mittlerweile war er nicht mehr im Osten, sondern an der Westfront stationiert.

Abb. 2 Hochzeitsfoto von Walter Wienand und Maria Lenze 1919
Hochzeitsfoto von Walter Wienand und Maria Lenze, 1919
 

Die 20er Jahre

Nachdem Walter Wienand Ende 1918 aus dem Krieg zurückkehrte, konnten er und Maria Lenze Anfang 1919 endlich heiraten. Bereits ein Jahr später, am 8. Januar 1920, nur zwei Wochen vor Walters 30. Geburtstag, kam ihre erste Tochter, Magdalena, genannt Leni, zur Welt. Die zweite Tochter ließ nicht lange auf sich warten, und so wurde Clara, genannt Klärchen, am 21. April 1921 geboren. Walter Wienand arbeitete weiterhin bei der Sachtleben A. G., wie bereits oben erwähnt jedoch nicht mehr als Buchhalter und Korrespondent, sondern als Materialverwalter. Am 27. Oktober 1923 bekam die kleine Familie ihren ersten und einzigen Sohn, Ewald, und erst über vier Jahre später, am 5. Januar 1928, wurde die Familie dann mit der Geburt ihres Nesthäkchens Hedwig, genannt Hetti – meiner Großmutter – komplett.

Die Familie lebte in einem Einfamilienhaus an der Hauptstraße mitten im Ort. In diesem lebten sie zusammen mit der Mutter meiner Urgroßmutter, Wilhelmine Fries. Da der Platz begrenzt war, musste meine Großmutter sich als jüngstes Kind das Bett mit ihrer Großmutter Wilhelmine teilen. Im Nachbarhaus gab es eine Gastwirtschaft; meine Großmutter erzählte, dass Walter sie abends oft hinüberschickte, um einen Krug Bier zu holen. Sie saßen abends oft gesellig beisammen und feierten gerne. In einem Brief vom 23. Januar 1922 eines Herrn Bischoping an Walter Wienand beschwert sich dieser über dessen Benehmen am Vorabend. Darin heißt es: „Herr Wienand, Ich komme zurück auf ihr Benehmen des gestrigen Abends. […] Auf Ihre Ausdrücke Rüpel und auf die Drohung mich tätlich anzugreifen behalte ich mir ausdrücklich die gerichtliche Beurteilung vor. […] Ihrer Frau Gemahlin gegenüber, die in ihrem feinen Sinne ihr Benehmen auch nicht verstand, entschuldige ich mich jedoch hier, als unschuldiger Grund ihrer Aufregung noch einmal ausdrücklich.“ Walter versah den Brief mit Randnotizen, korrigierte die Rechtschreibfehler und fügte einen Kommentar hinzu. Dort schreibt er unter anderem: „Wenn sie Abhandlungen über so korrecktes [sic] Benehmen schreiben wollen, empfehle ich Ihnen ganz besonders, sich vorerst selbst zu informieren, wie man sich benehmen soll, wenn man eine verheiratete Dame zum Tanz auffordert“. Scheinbar wollte er den Brief mit den Korrekturen und Bemerkungen zurückschicken; da der Brief aber immer noch im Familienbesitz ist, hat er ihn wohl doch nie abgeschickt.

Abb. 3 Walter und Maria Wienand mit ihren vier Kindern Leni Klñrchen Hetti und Ewald v
Walter und Maria Wienand mit ihren vier Kindern, Leni, Klärchen, Hetti und Ewald (v.l.)
 

Nationalsozialismus und Nachkriegszeit

Am 30. Januar 1933 ergriffen die Nationalsozialisten in Deutschland unter der Führung von Adolf Hitler die Macht. Während es in Lennestadt-Grevenbrück bereits seit dem Ende der 20er Jahre eine eigene Ortsgruppe der NSDAP gibt, bildet sich die Ortsgruppe in Meggen erst Mitte 1932 mit rund 20 Mitgliedern. Auch Walter Wienand trat 1933 nach der Machtergreifung in die NSDAP ein. Mit der Machtergreifung verdreifachte sich außerdem die Zahl der SA-Mitglieder im Kreis Olpe, was zur Folge hatte, dass auch Meggen einen eigenständigen SA-Sturm bekam. Auch in diesen trat mein Urgroßvater 1933 ein. Ebenfalls 1933 wurde er außerdem Mitglied der Deutschen Arbeitsfront (DAF), der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF).

1936 feiert er 25-jähriges Dienstjubiläum bei Sachtleben und fertigt zu diesem Anlass eine Zeitung zu Ehren der Jubilare an, mit der Festabfolge, Anekdoten, einem Rätsel und einem von ihm verfassten Gedicht. Mit KdF unternimmt er dann, im Sommer 1937, eine zweiwöchige Reise nach Wertach im Allgäu, die er in einem Fotoalbum genauestens festhielt. Er beschrieb zum Beispiel, was es zu essen gab, wie die Gruppe eine Käserei besichtigte und der Schweizer Käse hergestellt wird sowie die unterschiedlichen Stationen der Reise. Im selben Jahr wurde er außerdem zum Luftschutztruppenführer ausgebildet.

Abb. 7 Reise ins Allgñu 1937 1      Reise ins Allgäu 1937
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Abb. 8 Reise ins Allgñu 1937 2Abb. 9 Reise ins Allgñu 1937 3Abb. 10 Reise ins Allgñu 1937 4Abb. 11 Reise ins Allgñu 1937 5

Aufgrund von Pfeilabzeichen auf seiner Uniform, die auf einem Foto zu sehen sind, kann man davon ausgehen, dass er die SA-Reichsführerschule besuchte, was ihn vermutlich dazu qualifizierte, am 30. April 1944 zum Hauptsturmführer in der SA aufzusteigen.

Doch auch wenn er sowohl in die Partei als auch in die SA eintrat und dort auch aufstieg, so scheint er die Ideologie der Nationalsozialisten nicht oder nur im Ansatz geteilt zu haben. Es gibt zwei Eidesstattliche Erklärungen vom Mai und Juni 1947, die als Leumundszeugnisse zur Entlastung Walters im Internierungslager dienen sollten. So schildert ein Arbeitskollege Walters, Gottfried Werthebach, der demnach viele politische Gespräche mit ihm geführt hat, ihn in einem der Leumundszeugnisse als zunächst eher unpolitischen Mann, dessen Einstellungen auf „dem Boden der Demokratie basierten“. Er erklärt sich den Eintritt in die NSDAP als Versuch zu helfen und ein guter Deutscher zu sein und durch eine damit zusammenhängende Fehleinschätzung der Lage, jedoch nicht aus „persönlichen oder ehrgeizigen Motiven“.

Das zweite Leumundszeugnis stammt von Walters Kollegen Hans Budde und schildert den Umgang Walters mit den Fremdarbeitern. Am 26. Februar 1941 wurden in Lennestadt-Meggen 280 französische Kriegsgefangene in der Schützenhalle untergebracht, die als Bergarbeiter arbeiten mussten. Diese französischen Gefangenen und auch Fremdarbeiter waren immer wieder Beifahrer bei Hans Budde, einem Kraftfahrer bei der Sachtleben A.G. und Arbeitskollegen von Walter. Dieser fuhr auch immer wieder bei Einkaufsfahrten mit. Obwohl er von offizieller Seite immer wieder dazu gedrängt wurde, die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen auf der Ladefläche unterzubringen, achtete Walter streng darauf, dass sie mit ihm und Hans Budde im Führerhaus Platz hatten. Wenn er auf den Fahrten Obst und Rauchwaren verteilte, achtete er außerdem darauf, dass die Fremdarbeiter und Gefangenen nicht vernachlässigt wurden. Aus dem Leumundszeugnis von Hans Budde geht außerdem hervor, dass er, obwohl er Buddes offen antinationalsozialistische Einstellung kannte, nie etwas gegen ihn unternahm. „Irgendwelche Taten, die gegen die sittlichen Gesetze verstießen, hat er nie vollbracht. Sein Ziel war es immer, zu versuchen, dem Vaterland zu helfen“, schreibt Gottfried Werthebach, der selbst nie Mittglied der NSDAP war, noch über ihn.

Die Herrschaft der Nationalsozialisten endete am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. Für Walter hatte das zur Folge, dass er aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und seiner Stellung als Hauptsturmführer in der SA bis zum September 47 im Internierungslager Staumühle inhaftiert war.

Im Zuge der Entnazifizierung wurde er außerdem im September 1945 aus der SA und im Februar 1948 aus dem Volkstum entlassen. In seinem Entnazifizierungsbescheid wurde er nach Kategorie IV als „Mitläufer“ eingestuft.

Ihm wurde dann am 30. Juni 1945 bei der Sachtleben A.G. aufgrund der wirtschaftlichen Lage nach dem Krieg gekündigt. Wo und ob er die nächsten fünf Jahre bis zu seiner Rente 1950 arbeitete, ist unklar. Ein Verwandter und Freund, Dr.-Ing. Willi Fries aus Lippstadt, schrieb ihm nach seiner Rückkehr aus dem Internierungslager, er könne sich bezüglich seiner verlorenen Arbeit bei ihm melden, um eine neue Lösung zu finden; was daraus wurde, ist allerdings unklar.

Am 4. August 1953 starb Walter Wienand im Alter von 63 Jahren an einem Herzinfarkt.

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Abb. 12 Walter Wienand beim SA Dienst 1938
Walter Wienand beim SA-Dienst 1938
 
Abb. 13 Einreihungsbescheid zur Entnazifizierung
Einreihungsbescheid zur Entnazifizierung
Abb. 14 Eidesstattliche Erklñrung von Gottfried Werthebach vom 25.06.1947
Eidesstattliche Erklärung von Gottfried Werthebach vom 25.06.1947
 
Abb. 16 Eidesstattliche Eklñrung von Hans Budde vom 26.05.1947
Eidesstattliche Eklärung von Hans Budde vom 26.05.1947
 

Auseinandersetzung in der Familie

In meiner Familie wurde kaum über den Nationalsozialismus und meinen Urgroßvater gesprochen, was auch zu Streit führte. Außerdem erinnern sich meine Verwandten an unterschiedliche, teilweise sogar widersprüchliche Dinge. Es gibt nur ein paar wenige Geschichten über Walter Wienand, die meine Großmutter ihren Kindern schließlich erzählte.

Meine Mutter wusste lange Zeit nichts über die nationalsozialistische Vergangenheit ihres Großvaters, sie kannte nur zwei Geschichten über seine Festnahme nach dem Zweiten Weltkrieg, aus denen sie nicht erkennen konnte, welchen hohen Dienstrang er bei der SA gehabt hatte. Zum einen wurde Walter nach dem Krieg von den Briten verhört. Sie fragten ihn, ob er Mitglied der NSDAP gewesen sei, und er antwortete mit „Ja“. Daraufhin hätten die Breiten gelacht und gesagt: „Der Erste!“. Alle anderen vor ihm hätten geleugnet, Mitglied der Partei gewesen zu sein. Zum anderen wusste meine Mutter, dass ihre Mutter nach der Inhaftierung Walters am Abend zu einem stadtbekannten Kommunisten gelaufen sei, dem Walter geholfen habe, um ihn zu bitten, für ihn auszusagen. Er sei zunächst verärgert gewesen, als er sie sah und sie hatte große Angst; trotzdem erklärte sie ihm die Situation, und er willigte ein, da er es ungerecht fand, dass Walter bestraft werden sollte.

Meine Tante erinnerte sich zusätzlich noch an drei weitere Erzählungen. Kurz vor Weihnachten sei Walter aus dem Internierungslager nach Hause gekommen (was im Widerspruch zu einem Hinweis in seinem Personalausweis der Britischen Zone, einem Dokument der Polizeilichen Meldebehörde und dem Brief von Willi Fries steht, laut denen er bereits Anfang September zurückkehrte). Seine Familie wusste vorher nicht, dass er zurückkommen würde und erfuhr erst davon, als ein Bekannter Walter auf seinem Weg sah und durchs ganze Dorf zur Familie lief und rief: „Walter kommt wieder“. Die ganze Familie hatte während des Kriegs und auch während der Inhaftierung Walters mit Anfeindungen zu kämpfen, was ihnen schwer zu schaffen machte.

Außerdem waren während des Kriegs Zwangsarbeiter der Sachtleben A.G. bei der Familie einquartiert. Einmal ein Franzose und einmal zwei Italiener. Laut den Erzählungen wurden sie in der Familie aufgenommen, sie saßen abends zusammen, machten Musik und sangen. Der Franzose brachte den Kindern außerdem etwas Französisch bei. Dass die Familie Zwangsarbeiter gut behandelte, stimmt auch, wie oben schon erwähnt, mit den Aussagen Hans Buddes in seinem Leumundszeugnis überein.

Als letztes erzählte meine Großmutter noch, dass sie seit 1943 im Arbeitsdienst in Polen, im heutigen Katowice in der Nähe von Auschwitz, stationiert war. Als ihr Vater sie dort besuchte, besichtigte er auch das Lager in Auschwitz und sprach mit den Wärtern dort. Als er schließlich zu meiner Großmutter zurückkehrte, war er tief erschüttert und besorgt; es schockierte ihn sehr, was er dort gesehen hatte. Meiner Großmutter sagte er dann, sie solle auf sich aufpassen, dort würden schreckliche Dinge passieren und sie solle bloß nichts sagen.

Auch nach der Beschäftigung mit den Dokumenten, Bildern und Briefen bleibt einiges offen. Alles, was ich nun über meinen Urgroßvater weiß, ist, dass er ein freundlicher und lustiger Mensch gewesen zu sein scheint. Dass er sich den Kriegsgefangenen und Ostarbeitern gegenüber nicht feindlich verhielt, sondern bemüht war, sie wie alle anderen Menschen zu behandeln, auch wenn anderes von ihm verlangt wurde. Trotzdem stand er zu seinen nationalsozialistischen Tätigkeiten, er leugnete sie nicht. Anscheinend schloss er sich den Nationalsozialisten also nicht an, weil er ihre Ideologie und Gesinnung voll und ganz teilte. Er scheint sich ihnen angeschlossen zu haben, weil er glaubte, es sei das Richtige und Beste für sein Land, weil er glaubte, ihm so dienen zu können nach der schmerzlichen Niederlage des Ersten Weltkriegs, in dem er vier Jahre lang kämpfte, womit er sich offensichtlich irrte. Allerdings hörte er auch nicht auf, ihnen zu folgen, nachdem er in Auschwitz gewesen war und das Ausmaß des Leids dort zu sehen bekam, obwohl er es schrecklich fand und es ihm zu schaffen machte. Auch als Hauptsturmführer und höherer Angestellter bei Sachtleben sowie als Absolvent der Reichsführerschule hat er sicher mehr von den Verbrechen des Nationalsozialisten gewusst als andere. Trotzdem ist er bis zum Kriegsende den Nationalsozialisten treu geblieben. Das nationalsozialistische Denken und Vorurteile über Juden waren sicherlich auch in der Familie verwurzelt und alltäglich. In einem Brief von Walters Tochter Klärchen anlässlich der Trennung von ihrem langjährigen Verehrer an diesen heißt es: „Ich meine doch der Mann müsste immer ein Kämpfer sein […] So sagte doch der Führer und du gehörst doch jetzt seiner Schutzstaffel an. Oder denke ich nationalsozialistischer als du?“ So gab es also auch im nahen Umfeld der Familie überzeugte Nationalsozialsten. Selbst in den 80er Jahren sagte Klärchen bei Tisch, wenn jemandem ein Besteckteil hinuntergefallen ist, „wärst du ein Jude, dürftest du jetzt nicht weiteressen.“ Auch meine Großmutter ist, genauso wie ihre Schwester, mit der nationalsozialistischen Ideologie großgeworden, für sie war Walter Wienand nicht der Nationalsozialist, sondern ihr liebender Vater. Später vertrat sie jedoch trotzdem keine nationalsozialistischen Ideologien, sie war tolerant, weltoffen und engagierte sich ehrenamtlich für die Caritas.

Und ich weiß, dass mein Urgroßvater gerne schrieb. Er liebte es, alles ganz genau aufzuschreiben, wie in seinem Album über die Reise ins Allgäu oder als Schreiber im Ersten Weltkrieg. Aber er schrieb auch Gedichte wie in der Zeitung zum Jubiläum bei Sachtleben oder schrieb seine Meinung immer wieder an den Rand von Dokumenten oder Briefen.

Auch wenn ich nun sicherlich nicht alles über meinen Urgroßvater weiß, so weiß ich jetzt sehr viel mehr, als ich wusste, bevor ich mit diesem Artikel begonnen habe. Ich kann mir nun zumindest im Ansatz vorstellen, wie er gewesen sein mag und warum er tat, was er getan hat.

Abb. 5 Eine Seite aus der Zeitung zur Jubilarfeier mit dem Jubilar Walter Wienand
Eine Seite aus der Zeitung zur Jubilarfeier mit dem Jubilar Walter Wienand     
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Abb. 6 Eine Seite aus der Zeitung zur Jubilarfeier mit einem Auszug des von Walter Wienand geschriebenen Gedichts
Eine Seite aus der Zeitung zur Jubilarfeier mit einem Auszug des von Walter Wienand geschriebenen Gedichts
 

Abb. 17 Walter Wienand 1942
Walter Wienand 1942
 

(2021)


Literatur:

Heimat- und Verkehrsverein Grevenbrück e. v. (Hrsg.): Gevore – Förde – Grevenbrück. Ein Sauerländer Ort im Wandel der Zeit, Olpe 2015.

Pieper-Clever, Monika: Meggen und seine Nachbarorte unter dem Nationalsozialismus. Ein Zeitbild im Spiegel der Pfarrchronik St. Bartholomäus Meggen, Kreuztal 2015.