Steine 79 und 80, hier "springt" die Grenze über den Weg |
von Robert Filk
In den letzten Jahren hat sich das Antlitz des Siegerlands an vielen Stellen deutlich verändert: Aufgrund von Sturmschäden und Borkenkäferplage wurden weitläufig Waldflächen gerodet; Hänge und Hügel, die man bisher nur grün und mit Fichten bestanden kannte, sind kahl.
Aber neben neuen An- und Aussichten offenbart sich noch anderes. So etwa auf der Haincher Höhe: Zwischen Baumstümpfen finden sich hier entlang des Höhenweges kleine Steinsäulen. Und hält man die Augen nach ihnen offen, erspäht man sie auch an noch bewaldeten Stücken des Höhenzuges. Sie haben hier schon einiges miterlebt, denn ihre Geschichte beginnt vor über 200 Jahren.
Zwischen September 1814 und Juni 1815, nach der endgültigen Niederlage Napoleon Bonapartes. trafen sich auf dem Wiener Kongress Vertreter praktisch aller europäischen Staaten, um die politische Landschaft Europas neu zu ordnen und im Angesicht revolutionärer Bewegungen die Macht der Monarchien zu sichern.
Der Kongress hatte weitreichende Folgen für die weitere Geschichte Europas; uns aber interessiert ein unauffälliger Satz in Artikel 24 der Abschlussakte: Seine Majestät der König von Preußen werde mit voller Souveränität und Eigentumsrechten besitzen und mit seiner Monarchie vereinigen:
“1) Das Fürstenthum Siegen nebst den Ämtern Burbach und Neunkirchen mit Ausnahme eines Stücks mit 12000 Einwohnern welches dem Herzog und Fürsten von Nassau gehören soll.”1
Damit ergab sich eine neue Grenze zwischen preußischem und nassauischem Territorien, die sich von einem Dreipunkt nordöstlich des Ortes Mandeln bis zum heutigen Dreiländereck NRW/Hessen/Rheinland-Pfalzüber etwa 40 km erstreckte. Zuvor lag hier die Grenze zwischen Nassau-Dillenburg und Nassau-Siegen.
1835 wurde diese vermessen und markiert durch den Geometer (Vermesser) Schüler aus dem nahen Straßebersbach, das mittlerweile in Ewersbach, einem Ortsteil der Gemeinde Dietzhölztal, aufgegangen ist. Die damals aufgestellten Grenzsteine sind es also, die man noch heute erkunden kann. Stellenweise sind sogar die als weitere Grenzmarkierung angelegten Gräben noch zu erkennen. Die erstellten Karten gehören heute zum Bestand des hessischen Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden und sind mittlerweile online einsehbar.2
Auch unter Schnee und Eis lässt sich bei Stein 28 noch der Graben entlang der Grenze erahnen |
Besonders lange hatte diese Grenzlinie allerdings keinen Bestand: Nach seinem Sieg im Deutschen Krieg 1866 konnte Preußen auch das Herzogtum Nassau annektieren, das auf Seiten des Kriegsgegners Österreich gestanden hatte. Damit lag nun auf beiden Seiten der Grenze preußisches Gebiet.
Seit 1946, mit der Auflösung Preußens und der Gründung der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Hessen, verläuft hier wieder die Landesgrenze entlang der jahrhundertealten Grenzlinie.
Was also gibt es hier genau zu sehen?
Die im 19. Jahrhundert aufgestellten Grenzsteine sind meist quadratische Blöcke von etwa 20 cm Seitenlänge, die 60-70 cm aus dem Boden ragen. Einige sind auch breiter ausgeführt, dafür aber dünner. Ihre Oberseiten sich abgerundet, und sie tragen auf zwei Seiten eingeschlagene dreizeilige Inschriften.
Beispielansicht der Inschriften mit den anzutreffenden Ortsnamen |
Positionen und Zustand der Steine wurden von Hand notiert und später in die Online-Karte übertragen |
Zuoberst steht das Kürzel des Staates: KP für das Königreich Preußen auf der preußischen (heute NRW) Seite und HN für das Herzogtum Nassau auf der nassauischen (heute hessischen) Seite. Danach stehen die beidseitig gelegenen Gemeinden (immer mit dem Vorsatz “G”), etwa HCN für Hainchen und RHN für Rittershausen auf Stein 84. Zuletzt folgt eine Nummerierung, die auf beiden Seiten identisch ist und am Startpunkt bei Mandeln beginnt. Sie ist allerdings nicht immer fortlaufend, es gibt einige Auffälligkeiten wie z.B. bei den Steinen 86A und 86B.
Normalerweise stehen die Steine recht nah an der heute in Karten verzeichneten Grenzlinie von Hessen und NRW. Ihre Abstände sind unregelmäßig, sie stehen eben dort, wo sich der Verlauf der Grenze ändert. Aus den alten Karten lassen sich manchmal Hinweise ziehen, wo die Steine zu suchen sind, allerdings sind sie auch dann nicht immer zu finden. Zudem gilt es die Entfernungen erst einmal zu lesen: Sie sind angegeben in preußsischen Ruten, Fuß, und Zoll, die in Meter umgerechnet werden müssen.
An dieser kleinen Brücke über den Wiebelhäuser Bach, nahe der A45, sollten sich die Steine 123 und 124 befinden – eigentlich |
Steine 84 und 85 auf alter und neuer Karte, sowie die Umrechnung der Einheiten (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, HHStAW 3011/1 No 2198 B – Seite 6, Ausschnitt; Kartendaten © 2023 GeoBasis-DE/BKG (© 2009), Google) |
Die Steine haben die Jahre verschieden gut überstanden. Manche stehen aufrecht und fest wie eh und je, sind gut zu lesen und nur etwas mit Moos bewachsen. Andere stehen schief, sind zerbrochen oder so stark verwittert, dass ihre Inschriften kaum noch zu erkennen sind. Teilweise stehen sie direkt am Weg, sind kaum zu übersehen, an anderer Stelle liegen sie tief in Waldstücken abseits befestigter Wege, oder sind überhaupt nicht aufzufinden. Manche von ihnen wurden über die Zeit noch anderweitig genutzt und tragen aufgemalte Wegzeichen für Wanderwege oder Markierungen von Forstarbeiten.
Stein 104 mit Markierungen zwecks Waldarbeiten |
Ich habe 24 km der Grenze erwandert, aus der Nähe von Mandeln bis zur Autobahn A45 nahe der Kalteiche.3 Ein großer Teil dieser Strecke fällt mit dem Wanderweg Rothaarsteig zusammen: Ab dem Jagdberg bei Stein 78 verläuft er ebenfalls hier über den Höhenzug und seine Wegmarkierungen; höhere, gröber gearbeitete Steine mit dem Rothaarsteig-Logo finden sich immer wieder am Wegesrand zwischen den Grenzsteinen.
Stein 78 mit der Hütte auf dem Jagdberg |
Dadurch, dass Grenze und Grenzweg sich hier eben meistens über die höchsten Punkte der Hügellandschaft ziehen, ergeben sich auch immer wieder beeindruckende Ausblicke, nicht zuletzt durch die erwähnten Waldrodungen. Bei Stein 86 lädt beispielsweise eine Bank zum Verweilen ein, und ein aus dem Stumpf eines gefällten Baumes geschnitzter Vogel überblickt die Aussicht.
Eine beeindruckende Aussicht an der Wegbiegung bei Stein 86 |
Es gibt nur wenige Punkte, an denen die Grenze leicht zu erreichen ist, so die Landstraße L729/L1571, die über die Haincher Höhe verläuft, den kleinen Ort Sohl, und die Bundestraße B54 auf der Kalteiche. Abgesehen von diesen liegt sie meist weitab von jeder Bebauung. Nur in der Entfernung sieht man Ortschaften oder auch nur Straßen, begegnet kaum einem Menschen. An den abgelegensten Stellen herrscht außer den Geräuschen des Waldes völlige Stille, und man fragt sich, wie einsam diese Orte erst vor knapp 200 Jahren gewirkt haben müssen. Die Steine könnten es berichten.
So kann eine Markierung der Grenze heute aussehen – sommers oder winters |
(2023)
1 https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN546672892, S.47f
2 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v1793800
3 Karte der aufgefundenen Steine, mit Bildern: https://www.google.com/maps/d/edit?mid=1X-Ax6TgoFsss9KYEzdK6emsCahFRRCg
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