von Virginia Becker

Rund um Breitscheid führte eine Verlagerung der Verkehrswege, eine Umverteilung des Verkehrs und eine Veränderung der Verkehrsmittel schon früh zur Aufgabe zahlreicher Verkehrseinrichtungen. Die auf diese Weise funktionslos gewordenen Verkehrseinrichtungen sind uns heute als gegenständliche Quellen erhalten. Um die Verkehrsrelikte im Umkreis von Breitscheid näher zu erkunden, entschloss ich mich, eine Wanderung durch den schönen Westerwald zu unternehmen.

Es erscheint zunächst sinnvoll, die Gemeinde Breitscheid geografisch zu verorten. Die Gemeinde Breitscheid besteht aus den Ortsteilen Medenbach, Erdbach, Gusternhain sowie Rabenscheid und liegt in der Nähe des Dreiländerecks Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Nördlich benachbart von Breitscheid liegt die Gemeinde Burbach sowie die Städte Haiger und Dillenburg, im Osten grenzt Breitscheid an die Stadt Herborn, im Süden an die Gemeinde Driedorf und im Westen an die Gemeinden Willingen und Liebenscheid. Heute ist Breitscheid ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Westerwald.

Meine Suche nach längst in Vergessenheit geratenen Verkehrseinrichtungen beginnt am Rand des Dorfes, an der „Westerwälder Thonindustrie“. Dort endete die Bahnstrecke, die von Haiger nach Breitscheid führte. Früher existierte auf dem Firmengelände der „Westerwälder Thonindustrie“ ein Zustell- sowie Abholgleis. 1949 wurde das Anschlussgleis in Betrieb genommen. Heute sind die Gleise nicht mehr vorhanden. Im Jahr 2006 wurden die Gleise demontiert.

2 Anschlussgleis Westerwälder Thonindustrie klein

Durch den zunehmenden Straßenverkehr war der Schienenverkehr einer immer größer werdenden Konkurrenz ausgesetzt. Der Bahnverkehr zwischen Haiger und Breitscheid verlor stark an Relevanz und nahm ab 1969 kontinuierlich ab. Im Jahr 1980 wurde zunächst der Personenzugverkehr eingestellt. Der Güterzugverkehr blieb noch bis 1997 bestehen. Seit der Stilllegung der Bahnstrecke sind die Bahngleise, bis zu ihrer Demontage, langsam von Bäumen und Sträuchern überwuchert worden.

Die Planungen und der Bau der Bahnstrecke Haiger-Breitscheid begannen Anfang des 20. Jahrhunderts. Bereits 1862 existierte eine Eisenbahnverbindung die von Köln-Deutz über Betzdorf und Dillenburg nach Gießen führte. Damit bestand im 19. Jahrhundert schon eine Eisenbahnverbindung, die das Gebiet rund um Dillenburg mit einschloss. Zwischen 1872 und 1906 wurden benachbarte Gemeinden an diese Bahnstrecke angeschlossen. Ende 1908 veranlasste Paul von Breitenbach, der preußische Minister für öffentliche Arbeiten, den Bau zweier Stichstrecken. Eine dieser Bahnen sollte die Orte Haiger, Breitscheid und Gusternhain miteinander verbinden. Die andere Bahn sollte von Stockhausen nach Beilstein führen. Es war beabsichtigt auf diese Weise Orte, die über nicht ausreichende Verkehrsanbindungen verfügen, zu erschließen. Nach der Bewilligung der finanziellen Mittel, im Jahr 1912, wurde im Mai 1914 mit dem Bau der Bahnstrecke begonnen. Die Bauarbeiten wurden allerdings durch den Ersten Weltkrieges fast gänzlich unterbrochen. Erst 1918, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, kam es zur vollständigen Wiederaufnahme des Streckenbaus. Die Bauarbeiten wurden jedoch insbesondere durch die Inflation erneut verzögert. Erst Ende 1926 wurde die Strecke bis zum Bahnhof Rabenscheid provisorisch fertiggestellt. Bis 1934 unterblieb der ursprünglich geplante Ausbau der Strecke nach Breitscheid. Für die Weiterführung der Bahnstrecke nach Breitscheid waren letztendlich rüstungspolitische Motive ausschlaggebend. So sollten die Vereinigten Stahlwerke in Medenbach an die Bahnstrecke angebunden werden. Darüber hinaus wurden rund um Breitscheid Bodenschätze, wie Kalkstein, Ton, Braunkohlen sowie Basalt vermutet, die erschlossen werden sollten. Anfang 1936 wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Anfang 1939 war der Bau der Strecke bis nach Breitscheid fertig gestellt. Abweichend von dem anfänglichen Bauplan unterblieb der Streckenbau bis nach Gusternhain. Die Bahnstrecke zwischen Haiger und Breitscheid erreichte eine Gesamtlänge von 12,3 Kilometern.

Meine Wanderung führt mich nun wenige Kilometer durch das Dorf. Ich folge der Tiergartenstraße und anschließend dem Hüttenweg sowie der Siegfriedstraße in gerader Richtung. Nach einigen Metern stoße ich auf die Langenaubacher Straße und überquere diese. Anschließend passiere ich die gesamte Hohe Straße bis ich auf die Bahnhofstraße stoße. Nach ein paar Schritten bergauf ist das nächste Verkehrsrelikt, der alte Bahnübergang, erreicht. Auch hier sind die Gleise, wie in der restlichen Gemeinde Breitscheid, 2006 demontiert worden.

Die nächsten Kilometer der Wanderung verlaufen auf dem Gleisbett der Eisenbahnstrecke.3 Gleisbett der Eisenbahnstrecke klein

Ich verlasse den geteerten Weg und nach wenigen Schritten auf dem steinigen Untergrund erblicke ich rechter Hand das alte Bahnhofsgebäude. Ursprünglich war dieses als reines Provisorium angelegt worden. Das eigentliche Bahnhofsgebäude wurde am südlichen Rand des Dorfes, im „Schwarzen Weg“, errichtet. Doch die Bahnstrecke wurde nie bis dorthin fortgeführt, sodass das Bahnhofsgebäude als solches nie in Betrieb genommen wurde.

Ich folge dem Verlauf des Gleisbettes nun einige Kilometer. Das klackern der Steine ist bei jedem meiner Schritte deutlich hörbar. Der Weg führt an der „Cartonia“, einer Papierfabrik, vorbei. Dort sind noch wenige Meter der Gleise vorhanden.

Ringsum wird der Wald nun immer dichter. An mancher Stelle gar so dicht, dass ich mir den Weg erst mühsam durch das dicht gewachsene Gestrüpp bahnen muss.

5 Bahnstrecke zwischen Cartonia und Rabenscheider Tunnel kleinDurch das Blätterdach dringt nun nur noch wenig Licht. Nachdem ich dem Verlauf des Gleisbettes mehrere Kilometer gefolgt bin, überquere ich eine schmale und kurze Eisenbahnbrücke.

6 Gleisbett zwischen Cartonia und Rabenscheider Tunnel klein

Wenige Minuten später stoße ich auf das nächste Verkehrsrelikt, den Rabenscheider Tunnel.

7 Rabenscheider Tunnel Eingang kleinIch blicke auf den Tunneleingang, ein sauber in den Stein gefrästes halb Oval. Das Ende des Tunnels ist kaum sichtbar. Nur ein kleiner heller Punkt inmitten der Dunkelheit zeugt von dem Ende des Tunnels. Zugegebenermaßen kosten die ersten Schritte hinein in den Tunnel und in die absolute Finsternis Überwindung. Immerhin beträgt die Länge des Tunnels 1100 Meter. Der Klang meiner Schritte hallt laut von den Steinwänden zurück.

Der Eisenbahntunnel befindet sich zwischen dem Bahnhof Rabenscheid und der Station Medenbach. Etwa 420 Arbeiter waren an dem Bau des Tunnels beteiligt. Der Durschlag des Tunnels erfolgte im Mai 1939. Noch im selben Monat wurde die Teilstrecke Rabenscheid-Breitscheid in Betrieb genommen. Während des Zweiten Weltkrieges, im Jahr 1944, erfolgte eine zeitlich befristete Einstellung des Bahnverkehrs zwischen Rabenscheid und Breitscheid. Offiziell begründet wurde die Stilllegung der Strecke Rabenscheid-Breitscheid mit der Unterbringung des Gartenmöbelherstellers „Holzwerke Rabe“ im Tunnel. Tatsächlich sollte im Tunnel, gesichert vor Bombenangriffen, der Bau von Flugzeugmotoren erfolgen. Aus diesem Grund war es zur Entfernung der Gleise aus dem Tunnel und zur Anbringung eines Betonbodens gekommen. Außerdem wurden einige Nebenräume im Tunnel angelegt. Kriegsbedingt kam es auch auf der restlichen Bahnstrecke zum Erliegen des Verkehrs. Die Reparatur der Kriegsschäden an der Strecke bis nach Rabenscheid dauerte bis Frühjahr 1946. Die Instandsetzung des restlichen Streckenabschnitts, nahm die Zeit bis Februar 1949 in Anspruch. Dies lag unter anderem daran, dass der Tunnel wieder befahrbar gemacht werden musste.

Nach einiger Zeit wird es heller und der Tunnelausgang, der zuvor nur als kleiner heller Punkt zu erahnen war, ist nun deutlich als solcher erkennbar.

8 Rabenscheider Tunnel Ausgang kleinNach der Durchquerung des Tunnels sind es nur noch wenige Meter bis zum nächsten Verkehrsrelikt. Nach einem kurzen Stück auf dem Gleisbett beginnt sich rechter Hand der Erdwall zu lüften. Dort biege ich auf einen Feldweg ab und verlasse die Bahnstrecke die nun über Flammersbach nach Haiger führen würde. Der steinige Weg führt einige Meter bergab. Unten angekommen erblicke ich das Viadukt, das den Aubach überbrückt.

9 Viadukt klein

Nach der Unterquerung des Viaduktes folge ich einige Kilometer dem Rothaarsteig. Der Weg führt nun leicht bergauf. Zur Rechten befindet sich ein steiler Abhang sowie vereinzelt rot gefärbte Laubbäume. Die meisten dieser haben ihre Blätter bereits abgeworfen und recken ihre kahlen dürren Äste in den Himmel empor. Tief unten verläuft der Aubach. Der sonst viel Wasser führende Bach ist von Schnee bedeckt, nur hier und da ragen dunkle Steine aus dem Schnee heraus. Ich folge dem Weg nun in südliche Richtung und lasse das Aubachtal hinter mir. Die nächsten Meter führen steil bergauf. Etliche Minuten später verlasse ich den Rothaarsteig in linker Richtung. Nach einer Weile beginnt sich der Wald zu lichten. Rechter Hand öffnet sich der Wald und gibt den Blick frei auf eine Tongrube. Unter der dicken Schneedecke ist diese nur durch ihre kraterförmige Vertiefung erahnbar. Der Weg führt links an der Tongrube entlang und erneut in den dichten Wald hinein. In dieser Region verlief einst eine Seilbahn die von Breitscheid nach Niederdresselndorf führte.

1899 war die Drahtseilfabrik Adolf Bleichert, mit Sitz in Leipzig, mit der Planung und dem Bau einer Drahtseilbahn betraut worden. In Breitscheid fehlte zu diesem Zeitpunkt eine Transportmöglichkeit für die Zu- und Auslieferung von Gütern. Breitscheid war noch nicht an das Schienennetz angeschlossen. Lediglich in Herborn gab es eine Bahnstation, diese war allerdings neun Kilometer entfernt. 1901 war der Bau der Drahtseilbahn abgeschlossen. Die Drahtseilbahn führte von Breitscheid über Langenaubach, Flammersbach bis nach Niederdresselndorf. In Niederdresselndorf befand sich eine Verladestation. Diese war ausgestattet mit einer Schütt- sowie Niederlassvorrichtung. Von hölzernem Mast zu hölzernem Mast spannte sich das Zugseil sowie die Tragseile an denen die Seilbahnwagen hingen. Heute ist von dieser jedoch nichts mehr zu sehen.

Die nächsten Meter führen einen steilen Hang hinauf. Links und rechts säumen gerade in die Höhe gewachsene Tannen den Weg. Stamm an Stamm reihen sich die Tannen nah aneinander. Durch das dichte Nadelgeäst verirrt sich kaum ein Sonnenstrahl, der die dämmrige Dunkelheit zu durchbrechen vermag. Nach einigen Minuten bin ich oben angekommen, dort ist ein weiteres Verkehrsrelikt zu bewundern, die alte Rheinstraße.

11 Alte Rheinstraße kleinIm Mittelalter war sie ein Hauptverkehrsweg und führte von Dillenburg zum Rhein. Zahlreiche Kaufleute nutzten sie auf ihren Geschäftsreisen. Für Breitscheid und Umgebung bildete die alte Rheinstraße den kürzesten Weg zum Rhein. Vermutlich existierte die Straße bereits im 11. Jahrhundert.

Der nächste Abschnitt meiner Wanderung verläuft auf der alten Rheinstraße. Diese führt für einige Zeit schnurgerade durch den Wald. Hohe Bäume säumen den vom Schnee bedeckten Weg. Mit jedem meiner Schritte wird der Wald lichter. Zwischen den Bäumen schimmern stetig größer werdende Stücke des blauen Himmels hindurch. Nur das Rauschen der Bäume im Wind und der knirschende Schnee unter meinen Füßen ist zu hören. Nach circa einem Kilometer erreiche ich den Waldrand. Diesen lasse ich nun hinter mir. Links und rechts vor mir erstrecken sich große schneebedeckte Wiesen. Der Weg führt bergabwärts entlang einer langgezogenen Baumallee. Links und rechts säumen Pappeln den Rand des Weges. Einige Meter weiter am Dorfrand gabelt sich der Weg in den „Tannenweg“ und die Straße „Im Altenstück“. Der zuletzt genannten Straße folge ich bis sie auf die „Kirchstraße“ stößt und gehe noch wenige Schritte bergabwärts. Nun ist der Endpunkt meiner Entdeckungsreise erreicht, der zugleich der Ausgangspunkt meiner Wanderung war, das Anschlussgleis der „Westerwälder Thonindustrie“.

Durch die Weiterentwicklung der Verkehrsmittel sind zahlreiche Verkehrseinrichtungen im Umkreis von Breitscheid obsolet geworden. Heute zeugen diese Verkehrsrelikte von der Entstehung, dem Wandel sowie der Reduktion der Verkehrsströme in der Vergangenheit. Faszinierend dabei ist insbesondere mit welcher Geschwindigkeit sich dieser Wandel vollzog. Innerhalb von nur einem Jahrhundert haben sich die Verkehrsströme rund um Breitscheid erheblich verlagert.

Karte

(2017)


Literaturverzeichnis

Denecke, Dietrich: Wege der Historischen Geographie und Kulturlandschaftsforschung. Ausgewählte Beiträge, München 2005.

Kappest, Klaus-Peter: Rothaarsteig. Der Weg der Sinne. Deutschlands Landschaften von Dillenburg bis Brilon, 3. Aufl., Steinfurt 2003.

Kuhlmann, Reinhold: Ortschronik von Breitscheid. Dillkreis, Breitscheid 1931.

URL: http://eisenbahntunnel-portal.de/lb/inhalt/tunnelportale/3723.html

URL: http://www.ge-li.de/breitscheid/alt-breitscheid-in-hessen.htm