Geschichte im Blick der Siegener Zeitung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Wie erfährt der normale Bürger einer Stadt wie Siegen mehr über lokale Geschichte? Wenn man das Glück hat, an einem Ort mit Stadtmuseum aufzuwachsen, ist das natürlich ideal. Aber wer geht schon öfter als ein paar Mal ins gleiche Museum – Wanderausstellungen mal ausgeklammert?

Eigenständiges Lernen durch Bücher oder Erwachsenenbildung ist kaum als typisch für den Durchschnittsbürger zu bezeichnen.

Bleiben also die Medien: Radio, Fernsehen, Film und – besonders in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts – Zeitungen. Von der Grundannahme ausgehend, lokale Geschichtsberichterstattung werde ja sicher zu finden sein, ging also der Weg zum Archiv der Stadt Siegen im Krönchen-Center gegenüber der Nikolaikirche, inmitten der mittelalterlichen Altstadt. Die “Siegener Zeitung”, die hier sehr umfangreich ausliegt, ist das Ziel.

Wo beginnt man? Jede Aufteilung ist zwangsläufig arbiträr, zufällig, unvollständig. Den Anspruch statistischer Vollständigkeit oder auch nur Repräsentationsfähigkeit muss bereits zu Beginn des Projekts aufgegeben werden. Zeit und Raum für ein solches Unterfangen sind im Rahmen dieser doch sehr kleinen Untersuchung schlichtweg nicht genügend vorhanden. Diese Arbeit muss zwangsläufig etwas Anderes sein – ein kurzer Einblick, stichprobenartig, in die sich entwickelnde Natur des deutschen Zeitungswesens auf kleinstem Raum. Am Ende ist die Entscheidung getroffen: Wir beginnen im Jahr 1900 und enden 50 Jahre später, zum 725. Geburtstag Siegens, im Jahr 1949.

Das Jahr 1900 also, und es regt sich zunächst Hoffnung: Direkt die erste Ausgabe der “Siegener Zeitung” ruft eine neue Rubrik ins Leben. “Vor 100 Jahren”, eine kleine Spalte am Rand der Titelseite, feiert das runde Jahr 1900 mit einem Einblick in das Leben Siegens im Jahr 1800. Es sind zumeist kleine Eindrücke landwirtschaftlichen Seins, mit gelegentlichen Einwürfen von Provinz-politik oder Kuriositäten der vorindustriellen Lebenswelt. Und dabei bleibt es dann auch.

Die “Siegener Zeitung” hat bereits 1900 einen ziemlich klaren und typischen Aufbau: Titelseiten-Aufmacher sind nationale oder internationale Nachrichten politischer Natur, dem folgen dann auf den nächsten Seiten Geschichten aus Westfalen und dem Siegerland. Inserate und gezeichnete Produktwerbungen machen einen nicht unerheblichen Teil des Zeitungsvolumens aus. Berichte über Historisches aus der Region finden sich aber, mit Ausnahme der durchweg vorkommenden “Vor 100-Jahren”-Rubrik, keine.

Nach mehreren Stunden des erfolglosen Durchforstens wird man vertröstet: Dem Siegener Vereinswesen, das immer wieder während der Lektüre in den Blick sprang, mangelte es damals an einem historisch interessierten Verein. Der war 14 Jahre zuvor wegen mangelden Interesses aufgelöst worden. Das sollte aber nicht immer so bleiben; so ging der Blick in die Zukunft, ins Jahr 1911.

 

Bereits am 2. Januar 1911 findet sich in den Nachrichten aus dem Siegerland eine erfreuliche Botschaft: Die Heimatschutzbewegung hat nun vollends Siegen erfasst, und es gibt Pläne, einen entsprechenden “Verein für Heimatschutz” zu gründen. Diese Geschichte ist dann auch die erste Meldung im Lokalteil am 5. Januar. Der “Verein für Urgeschichte und Altertumskunde”, unter dem Vorsitz eines Prof. Dr. Heinzerling, tagte am Vorabend und beschloss, sich zum “Verein für Heimatkunde und Heimatschutz im Siegerland” umzuwandeln. Fokus dieses neuen Vereins sollten der Druck eines Urkundenbuchs und die Sammlung von alten Schriften, Orts- und Flurnamen sein; außerdem “sei zu erforschen, was sich vom heidnischen Glauben unserer Vorfahren und vom Aberglauben erhalten hat”. Die Heimatschutzbewegung sei eine Reaktion auf die Industrialisierung und deren massiven Fortschritts auf Kosten des “guten Alten”.

Im Verlauf des Jahres 1911 berichtet die Siegener Zeitung noch einmal über die Tätigkeit des Vereins: Zur Veröffentlichung seiner ersten Schrift am 21. Juli. Die Rezension des Heftes ist freundlich und interessiert und beschreibt den bunten Inhalt der zahlreichen Artikel; sie endet mit einem Wunsch der Zeitung, der Verein möge noch viel Erfolg mit seiner Arbeit haben.

Mitte März 1911 fand sich im Dritten Blatt der Zeitung eine dreiteilige Serie über die Geschichte des Stifts Keppel, mit dem Untertitel “Geschichtliche Rückblicke und Stimmungsbilder”. Es ist eine ordentlich erzählte Chronik des Frauenklosters von seinen Ursprüngen im 13. Jahrhundert, voller Details über Lebensweise und wirtschaftliche Situation des Klosters durch die Jahrhunderte. Dabei ist der Blick wenig auf historische Objektivität, sondern auf Geschichtenerzählung gerichtet; der Weltlichkeit und Sittenarmut der Nonnen ist in dieser Chronik viel Platz gewidmet. Den Protestan-tismus sieht man hier klar als positive und reinigende Kraft, die den alten Katholizismus “davonspült”. Das Kloster ist hier auch Symbol für die sich verändernde Welt im Siegerland, bis hin zur Umgestaltung des Klosters zu einer Mädchenschule in der Gegenwart. Ein solch langer, über drei Tage veröffentlichter Text zu einem klar historischen Thema, verfasst von der nicht näher ausgewiesenen Dame Marie Antoinette Gaillard, ist Zeichen eines sich wandelnden Interesses.

Die nächste Nachricht historischen Ursprungs könnte in dieser Form auch heute in eine Lokalzeitung geraten: Am 1. Juli wird berichtet, dass unter der Martinikirche ein Gerippe gefunden wurde; drei Tage später folgten zwei weitere Überreste. Über deren Identität konnte die Zeitung nur vorsichtig spekulieren. Zwei Wochen später folgte ein längerer Artikel über den Begräbnisort und die Geschichte der Martinikirche und der angrenzenden Stadtbefestigung – offenbar war hier ein historisches Interesse geweckt. Den Artikel schließt eine Aufforderung des Autors ab, jetzt doch am Besten den ganzen Kirchenflur zu öffnen, um mehr historisches Wissen zu erlangen.

Im September 1911 findet sich ein längerer Bericht über das Schloss Freusburg, eine an der Sieg gelegene Höhenburg im heutigen Rheinland-Pfalz. Eine Beschreibung der Geschichte und des Aussehens der Burg endet mit dem Hinweis, dass in letzter Zeit größere Reparaturarbeiten zur Instandsetzung der Gebäude stattfänden – Hinweis auf den noch anhaltenden Historismus im Deutschen Reich.

Aus Betzdorf wurden schließlich Ende September “interessante Funde aus der Ritterzeit” gemeldet – Lanzenspitzen, Hufeisen und Schmuck wurden beim Graben von Wasserleitungen entdeckt.

Im November schließlich fanden sich mehrere zusammenhängende Artikel über die geschliffene Burg der Kolben von Wilnsdorf, die durch zahlreiche Bodenfunde bestätigt und dann in der Zeitung historisch untermalt wurde.

Alles in allem also ein sehr ordentliches Jahr für die Geschichtsberichterstattung – erwartungs-gemäß meist als Reaktion auf archäologische Funde, aber mit Interesse und überraschender journalistischer Pflege, ohne offensichtliches Aufbauschen.

Wohin weiter? Ein gutes Ziel ergab das Jahr 1924, das die 700-Jahr-Feier der Stadt Siegen im September beinhaltete. Aufgrund der unglücklichen Zustandslage der Zeitungen dieses Jahres mussten Mikrofilmaufnahmen der entsprechenden Ausgaben herangezogen werden – eine langwierige, wenn auch ungewöhnliche und deshalb interessante Arbeit.

In der ersten Jahreshälfte finden sich einige historische Artikel: Darunter ein längerer Aufsatz “Vor 50 Jahren in Siegen”, der die Lebenssituation im Jahr 1873 beschrieb. Der Ton schwankte dabei zwischen nüchtern und heiter, wenn über die damals noch “kleinbürgerliche” Natur der Bürger berichtet wird, die so ganz anders sei als die moderne Art der Zwischenkriegsgesellschaft. Der Verfasser, mit Namen Jung, will der heutigen Gesellschaft ein “Spiegelbild” vorhalten, besonders in Hinsicht auf die wirtschaftlich schwere Lage – ein Punkt, der nicht allein die historische Berichterstattung im Jahr 1924 durchweg begleitet. Siegen hat im Großen Krieg und der Zeit danach schwer gelitten, die Wirtschaft erholt sich langsam.

Im Artikel “Aus der Heimat alten Tagen. Die Befestigung Alt-Siegens” wird ausgiebig über die Geschichte der Stadtmauer und ihrer Türme berichtet, besonders über die (unfreiwillige) Beteiligung der hart geschundenen Bürgerschaft an ihrer Errichtung. Der Artikel endet mit der Nennung einer blutigen Sage zur “Eisernen Jungfrau”, die in einem der Türme geborgen worden wäre.

Untypisch im Vergleich zum eher mittelalterlichen Fokus historischer Berichterstattung findet sich hier auch ein Artikel “Aus der Industriegeschichte des Siegerlandes”, der die Entwicklung der Industriebauten im Siegtal nachzeichnet: Von der langsamen, durch Wasserkraft vorangetriebenen Ursprungszeit zum Auftauchen der Eisenbahn und der Oberherrschaft des “Ingenieurs”. Dieser sei nur von Rechnungen getrieben, rücksichts- und kunstlos. Der Autor des Textes bittet auch in diesen “mageren Jahren” um einen Sinn für Ästhetik, den Ingenieure und Architekten gemeinsam entwickeln könnten. Diesen Ausführungen folgen Industriegeschichten der Gerberei und Elektrotechnik, die in ihrer Schreibweise weniger spannend gehalten sind.

Zahlreiche Artikel im Jahresverlauf weisen, mit steigendem Drang, auf die bevorstehende Jubiläumsfeier hin, die möglichst von der gesamten Stadtbevölkerung zu tragen sei. Die zweite Hälfte der ersten Septemberwoche 1924 war festgesetzt worden, und Aufrufe von Seiten der Zeitung steigerten sich, je näher dieses Datum rückte – historische Berichterstattung jedoch leider nicht. Erst als das Jubiläum tatsächlich angekommen ist, kommt Leben in die journalistische Vergangenheitsarbeit – in erster Linie, weil Vorträge zum Jubiläum selbst abdruckt oder wiedergegeben werden. Der Ton ist dabei, nicht überraschend für Festschriften, höchst positiv und energetisch. Ein gewisser antifranzösischer Tonfall lässt sich dabei etwa in der Erinnerung an die Napoleonischen Kriege nicht übersehen und passt sich gut in den allgemeinen, vom Krieg geprägten Tenor ein. Eine ganze Reihe von Beiträgen über unterschiedlichste Themen zur Geschichte der Stadt füllten die Seiten der Siegener Zeitung in den Tagen der 700-Jahr-Feier, und aus allen ergab sich dem Leser ein Stolz und Interesse an der eigenen Vergangenheit, der sich in dieser Form vorher nicht gezeigt hatte. Umso interessanter, dass nach der Berichterstattung des Jubiläums im September die Anzahl historischer Artikel massiv abflaute und auch für den Rest des Jahres nicht mehr ernstlich zunahm. Festtagsunabhängige Geschichtsliebe ist hier noch Rarität.

Wo nun das große Stadtjubiläum hinter uns liegt, eröffnet sich eine neue Periode der Stadt-geschichte: Die Rede ist von der Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933. Als Auswahlpunkt dient hier das Jahr 1934, also 10 Jahre nach der letzen Stichprobe. Erwartungsgemäß finden sich in der Berichterstattung zahlreiche historische Artikel und Berichte, sicher angefeuert durch das nationalsozialistische Interesse an Heimatforschung, Deutschtum und der Ideologie von Blut und Boden. Eine neue Rubrik findet sich bereits in der ersten untersuchten Ausgabe, die der “Vor 100 Jahren”-Rubrik aus dem Jahr 1900 nicht unähnlich ist.

 In der Sparte “Gedenktage der Heimat” finden sich für jeden Tag des Jahres Verbindungspunkte zu Ereignissen der Stadtvergangenheit, zumeist aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Auch die bereits zuvor bekannte Kurzrubrik “Vor 50 Jahren im Siegerland” kehrt zurück und berichtet über lokale Aufregung, etwa wegen der neuen Eisenbahn und einer Einbrecherbande.

Ebenfalls im Januar 1934 wird über eine “Sonder-Ausstellung im Siegerländer Heimatmuseum” über das “deutsche Ritterwesen” berichtet. In begeistertem Tonfall wird die Anziehungskraft des Rittertums auf Museumsbesucher beschrieben; ein ausgestellter Holzschnitt Dürers wird auf seine “markig-deutsche Kunst” hin bewundert, und am Ende des Artikels werden die Leser zutiefst gebeten, doch bitte diese Ausstellung auch zu besuchen.

In die “Frage heimatlichen Blutes und Bodens” soll ein Artikel namens “Seejerlänner Klönnsche – und Frankenblut” einführen, so sagt es die Fußnote klar. Unverhohlene NS-Propaganda zeigt sich in Gestalt einer Vortragsbesprechung eines Prof. Dr. Schüßler-Rostock, der von der “nahen Verwandtschaft” aller Deutschen berichtet. Die Siegerländer seien dabei, durch ihre räumliche Abschottung, eine “geschlossene Einheit” aus Blutsverwandten, was sie gegenüber Fremden verschlossen und kritisch mache. Das kritisiert der Autor zunächst vorsichtig, dann offen, und bittet die Siegerländer, sich doch für eine “Blutauffrischung” (natürlich durch deutsche Blutsbrüder) zu öffnen.

Im Artikel “Germanensturm in das Eisenland” wird die Besiedlung des Siegerlandes durch Kelten nachgezeichnet, die Wallburgen und Eisenschmelzwerke errichteten; diese seien dann später wegen des germanischen Drangs nach Eisen “mühevoll” erobert worden. Der den Deutschen so innewohnende Drang nach Lebensraum und Rohstoffen, eine weitere Zentralideologie der Nationalsozialisten, ist hier klar zu erkennen.

Dem scheinbar geäußerten Vorwurf, das Siegerländer Heimatmuseum sei nur bedingt “heimatlich” ausgestattet, stellt man sich in der Siegener Zeitung lautstark entgegen; die größtenteils aus Leihgaben bestehende Ritter-Ausstellung sei ja etwa mit der Heimat insofern verbunden, als dass es Ritter auch im Siegerland gegeben hätte.

Museumsdirektor Dr. Kruse kommt des Öfteren zu Wort – so beschreibt die Zeitung einen Vortrag

des Reichssenders Köln über die Geschichte des Siegener Fürstenhauses. Die Lokalgeschichte scheint nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein.

Das “Siegerländer Eisen” ist ein so wichtiges Stolzsymbol dieser Zeit, dass in der Berichterstattung über ein besonders bemerkenswertes Fensterankereisen, das in Köln gefunden wurde, von Seiten des Autors klar die Aussage getroffen werden kann, es müsse sich um das bekannt “reine Eisen” der Heimatregion handeln.

Blut und Boden lassen sich im Jahresverlauf ständig wiederfinden – das Siegerländer Bauerntum ist der zentrale Charakter der Region. Eine ganze Dreiviertelseite der Zeitung ist in einer Augustausgabe der “Geschichte eines Siegerländer Erbhofes” gewidmet; noch so ein Kampfbegriff der NS-Propaganda. Die traditionsbewusste und auf Abstammung konzentrierte “Natur” des Bauerntums, verschüttet durch Sittenverfall der jüngeren Vergangenheit, werde hier “endlich” wiederentdeckt. Seit über einem Jahrtausend lebe auf dem Hof Berghaus die selbe Familie, der dieser Artikel gewidmet ist. Tatsächlich nachvollzogen wird die Familiengeschichte aber erst ab 1650, denn von früher, so wird moniert, gäbe es keine Unterlagen. Dem “für die Ewigkeit gebauten” und “sauberen” Hof dieser Bauern ist dem Autor jedenfalls kein Lob zu gering.

Bei der Fahrt des Heimatschutzvereins, der seit seiner Gründung 1901 die Jahrzehnte erfolgreicher als beim ersten Mal überlebt hatte, ist Museumsleiter Dr. Kruse wieder der Reiseführer. Zahlreiche Sakral- und Sekularbauten beschreibt der Autor in großem Detailreichtum.

Unglücklicherweise ist die mehrfach beworbene Beilage zur Siegener Zeitung “Heimatland”, die wisssenschaftliche Aufsätze zu heimatkundlichen Thematiken enthielt, nicht mitüberliefert. Ebenso spannend wäre der lautstark beworbene “Siegerländer Heimatkalender auf das Jahr 1935” des Heimat-schutzvereins gewesen, der mehrere divers aufgestellte Themen zur Heimatkunde enthielt, besonders der “Ahnenkunde” und Wirtschaftsgeschichte.

Bemerkenswert erscheint der nur ein Jahr nach der Machtergreifung sehr umfangreiche und enthusiastische Aufgriff nationalsozialistischer Ideen und Vorstellungen auch und gerade im Bereich der Lokalgeschichte und deren dichte Verflechtung mit der Blut-und-Boden-Ideologie. Offensichtlich fielen hier heimatkundliche Bemühungen von Seiten der neuen Machthaber im wahrsten Sinne des Wortes auf fruchtbaren Boden.

Die Aktivitäten der Siegener Zeitung ließen, vor allem auf Grund der sich stark verschlechternden Kriegslage und der weitreichenden Zerstörung der Stadt im 2. Weltkrieg, im Verlauf der 1940er Jahre massiv nach und brachen 1944 ganz ab. Um für diese Arbeit einen Abschluss zu finden, ist das Jahr 1949 ausgesucht worden, in dem die 725-Jahr-Feier Siegens gefeiert wurde. Da die Siegener Zeitung jedoch leider erst ganz am Ende des Jahres ihre Publikationstätigkeit wiederaufnahm, wurde die Entscheidung getroffen, auf die Lokalausgaben der Westfälischen Rundschau für den Raum Siegerland auszuweichen, um wenigstens darüber einen Einblick in die Feierlichkeiten zu gewinnen. Die für den 1. und 2. Oktober 1949 angesetzten Feierlichkeiten wurden mehrfach beworben, und das Motto “Siegen im Wiederaufbau” war dann auch klares Symbol einer im Vergleich zum 25 Jahre zuvor stattgefundenen Volksfest eher gedämpften Atmosphäre. Als Ehrengast war der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens Karl Arnold (CDU) geladen. Dass die Heimatforschung die Wirren der Kriegszeit dennoch überstanden hatte, zeigt ein als Teil der Jubiläums-Festschrift beschriebener Aufsatz des Oberstudienrats Böttger über die Entstehungsgeschichte der Stadt, in der “neue Erkentnisse durch Bodenforschung” vorgestellt wurden. Auch die Martini- und Nikolaikirchen, die im Krieg schwer zerstört wurden, werden in der Festschrift erwähnt, und ein Architekt beschreibt ihre Entwicklungsgeschichte.

Als Teil der Abbrucharbeiten des alten Kaiser-Wilhelm-Denkmals am Marktplatz berichtete die Westfälische Rundschau über den überraschenden Fund eines Hohlraums unter dem Sockel, dessen Natur näher zu untersuchen sei.

Zum 725. Geburtstag der Stadt gab es dann noch eine Handvoll von Artikeln zur Stadtgeschichte, so über den Maler Jakob Scheiner, der mehrere Stadtansichten im 19. und frühen 20. Jahrhundert anfertigte. Auf einer Zeittafel am Rande des Jubiläumsblatts war in wenigen Stichwörtern die Geschichte der Stadt von ihren Ursprüngen bis 1949 nachgezeichnet. Dr. Paul Fickeler verfasste einen kurzen Abriss über die Kulturgeschichte Siegens in den letzten 150 Jahren, in dem er die Hoffnung äußerte, die Stadt möge ihr Kulturschaffen noch weiter ausbreiten.

Ungewöhnlich und interessant war eine Rezension des Stadtfestes, verfasst auf Siegerländer Dialekt, die sich nicht nur über die gerade begangenen Festtage freut, sondern auch an die 700-Jahr-Feier im Jahr 1924 erinnert und die zwei Nachkriegszeiten vergleicht – damals habe man noch keine “Trömmer on Ruine” gehabt, mit denen man sich abmühen musste. So berichtet der sehr heimelig erzählende Artikel über die wunderbare Ausstattung, die verkleideten “Landsknächte” und das “Dorgäld”, das nicht jeder bezahlen wollte. Aus der Nostalgie heraus kommt der Artikel nur schleppend, macht dann aber Mut: Auch wenn man auf manches dieses Mal hätte verzichten müssen, so gehe der Weg doch nach vorn.

Den im Wiederaufbau befindlichen Siegenern stand 1949 noch wenig der Sinn nach historischer Berichterstattung – dennoch ist eine Verbindung zu früheren Zeiten durch immer noch hoch anerkannte Heimatforscher klar zu erkennen, die weiterhin an lokalhistorischen Themen arbeiteten. Die offene und aggressive Heimatliebe der 1930er ist zwar nicht mehr zu finden, aber ein Interesse an der Geschichte der Heimat kann sich im Jubiläumsjahr 1949 doch noch erkennen lassen.

Kann man hier ein Fazit ziehen? Die Heimatforschung kam in Siegen, so scheint es, etwas stockend in Fahrt, konnte sich dann aber durchaus etablieren und fand ihren Platz im Siegerländer Öffentlichkeitsinteresse. Irrwege der national überhöhten Deutschtümelei in den 1930ern sind im Siegerland nicht einzigartig oder besonders, sondern Symptom einer Ausnutzung bestehenden Vergangenheitsinteresses durch faschistisch-nationalitische Kräfte in ganz Deutschland. Zumindest 1934 war diese “Heimatliebe” noch nicht mit offenem Fremden- und besonders Judenhass durchtränkt – bedenkt man das Schicksal der örtlichen Synagoge und Judengemeinde, war das aber nur eine Frage der Zeit. Ein Interesse der Bevölkerung an ihrer Lokalvergangenheit findet sich, wenn auch reduziert und mit Nachgeschmack, noch nach dem Krieg. Wie sich diese Entwicklung fortsetzte und zur heutigen Situation wurde, könnte mit ähnlichen Mitteln sicher erforscht werden und wird fraglos zu ebenso interessanten Ergebnissen führen.