von Sarah Schumacher

Friedlich. Das ist das Wort das einem in den Sinn kommt wenn man den kleinen Jungen sieht. Der Junge der Mundharmonika spielend auf dem Rücken einer braun-bunten Kuh sitzt. Es ist seine Aufgabe. Jeden Tag, ob es regnet oder ob es eiskalt ist, jeden Tag treibt er die beiden Kühe aus dem Stall und hütet sie stundenland während sie weiden.

Die Kühe wechselten, Sternchen, Lisa, Berta, Ella und viele mehr über die Jahre. Sanft sind diese Kühe, sie lassen den Jungen auf ihren Rücken steigen ohne einen Schritt zur Seite zu tun. Sie folgen ihm auf die grüne Wiese und zurück zum Stall. Nur selten wirft er einen kleinen Stein nach ihnen, wenn sie auf dem benachbarten Grundstück grasen wollen. Harmonisch ist das Bild, wenn der Junge seine bläulichen, zitternden Hände in die Achsel der Kuh schiebt und sich nah an ihren Hals stellt, um von ihr gewärmt zu werden.

Die Zeiten sind hart. Für alle. Wir schreiben das Jahr 1945, der Krieg ist zu Ende, Väter kehren heim zu ihren Familien und der Frieden hat offiziell begonnen. Doch der Hunger, der schon zur Kriegszeit allgegenwärtig war wird nun zum vorherrschenden Problem. Kurz nach Kriegsende wird die Ernährungslage immer kritischer. In den Wochen nach der Kapitulation bricht die staatliche Lebensmittelversorgung komplett zusammen. Glück hat wer auf dem Land lebt, wer die Möglichkeit hat sich selbst versorgen zu können und somit die Ernährung der Familie sicherstellen kann, ohne von Lebensmittelkarten und Lebensmittelreserven abhängig zu sein. Doch setzt diese Sicherheit viel Arbeit voraus, Arbeit und Hingabe.

Im Oktober 1940 kam mein Großvater auf diese Welt. Er hatte Glück. Seine Eltern besitzen einen kleinbäuerlichen Betrieb in Meiswinkel, Odenspiel, im heutigen Oberbergischen Kreis. Seine Mutter bestellte allein das Land, kümmerte sich um das Vieh und um den 100qm großen Obst- und Gemüsegarten, während der Vater im Krieg war. Neben dieser mühevollen Arbeit am Tage nähte und schneiderte sie nachts für andere Leute da der Sold meines Urgroßvaters allein nicht ausreichte. Nach Kriegsende kehrte ihr Ehemann endlich heim, doch er war schwer kriegsversehrt. Als mein Großvater seinen Vater kennenlernte, war dessen linker Arm von einem Durchschuss bis zur Hand hin steif geworden. Hinzukam einige Jahre später die Entfernung eines Auges, welches durch mehrere Verschüttungen beschädigt und erkrankt war. Die Geburt meiner Großtante, der Schwester meines Großvaters, im Mai 1946 vervollständigt die Familie Schumacher zu dieser Zeit.

Doch das stimmt nicht ganz. Denn auch die beiden Kühe, die zwei Schweine und die zwölf Hühner, sowie ein kleines Kälbchen gehören wohl dazu. Sie werden von der Familie versorgt und sie versorgen die Familie. Ein symbiotisches Verhältnis. Sie leben eng miteinander verbunden, ihr Lebensrhythmus ist aufeinander abgestimmt. Der Stall befindet sich direkt am Haupthaus verbunden mit der Scheune und einem kleinen Schuppen fürs Brennholz. Wenn nachts ein Gewitter aufzieht, schlüpfen alle sofort in ihre Anziehsachen, sollte ein Blitz einschlagen oder die Tiere unruhig werden sind alle bereit. Auch wenn eine Kuh vorm Kalben steht wird mindestens eines der Familienmitglieder das Tier über Nacht beobachten um bei eventuellen Komplikationen frühzeitig Hilfe aus der umliegenden Nachbarschaft zu holen. Am Morgen und am Abend werden die Tiere mit frischem Wasser versorgt, das vom Brunnen ein paar hundert Meter weiter geholt werden muss. Im Sommer trinken die Tiere bis zu 20 Liter Wasser am Tag. Das Kälbchen ist kein Saugkalb, es bekommt von Hand einen Teil der Muttermilch gemischt mit Wasser. Täglich kümmert sich jemand um die Tiere, die Menschen achten das ihnen anvertraute Leben, denn auch der planmäßige Tod der Tiere sichert ihre Versorgung.

Während die Kühe zum Schlachten abgegeben und nur teilweise zurückgekauft werden schlachtet die Familie die Schweine einmal im Jahr selbst. Jeder Bestandteil der Tiere wird verarbeitet und genutzt. Mein Großvater, der im Vorschulalter ist, sieht dabei zu wie das Schwein mit dem Schlag einer Axt vor den Kopf getötet wird, wie es ausblutet und mit kochend heißem Wasser abgeschrubbt wird bis die Borsten und die obere Hautschicht abgelöst sind. Es mag grausam klingen, doch für die Familie ist der Schlachttag ein Fest. Das ganze Jahr werden sie von den Erzeugnissen leben. Blut-, Leber- und Bratwurst werden mit Hilfe von Sägemehl geräuchert, aus den ausgekochten Knochen, den Innereien und dem aufgefangenen Blut wird Panhas hergestellt, andere Reste kommen in den Fleischwolf oder werden zu haltbarem Pökelfleisch. Selbst das ausgelassene Fett wird zu Schmalz verarbeitet und die Knochen zu Hühnerfutter. Jeder Anteil dieser Tiere sichert das Überleben der Familie. Ab und zu wird aus einer getrockneten Schweineblase auch ein Fußball, mit dem die Kinder draußen spielen.

Jeden Morgen werden die Eier der Hühner eingesammelt, sie können im Lebensmittelladen eingetauscht werden. Zweimal täglich werden die beiden Kühe gemolken. Da die Familie von den etwa 10 Litern nicht alles benötigt wird ein Teil vom Milchwagen abgeholt und eingetauscht gegen Quark, süße und saure Sahne und Butter. Das geerntete Getreide wird zur nächsten Mühle gebracht und dort gemahlen. Hinter den Gebäuden erstrecken sich vier Hektar Land, davon werden auf dreien Gerste, Hafer, Roggen, Kartoffeln und Futterrüben angebaut. Der restliche Teil besteht aus Wald. Neben dem Haus befindet sich der große Garten mit Obstbäumen und –sträuchern, in dem zur Sommer- wie zur Winterzeit Gemüse wächst. Übers ganze Jahr hinweg kann sich die Familie so versorgen. Gemüse wird frisch zubereitet, gelagert und konserviert. Salat, Möhren, Zwiebeln, verschiedene Bohnensorten, Mangold, Erbsen, Rote Beete sowie Grünkohl, Weißkohl und Rosenkohl. Es bleibt nicht viel was die Familie missen oder hinzukaufen muss. Ihr Leben mag kräftezehrend und beschwerlich sein, doch ist es ein zufriedenes Dasein ohne Hunger und Entbehrungen.

Nur durch die langen Schlangen beim Brot kaufen erinnert sich mein Großvater an die Lebensmittelkarten und die Lebensmittelarmut. Doch lieber erinnert er sich daran, wie er der Katze auf dem Feld eine Maus fing, oder an die Rauchschwalben die damals im Stall wohnten und heute nahezu gänzlich verschwunden sind. Gerne denkt mein Großvater daran, wie er Mundharmonika spielte, während er die Kühe hütete oder an Milchsuppe mit eingemachtem Obst und Bratkartoffeln zum Frühstück. Der Krieg hinterließ viel Schrecken und lehrte meine Familie, dass was wir haben, wertzuschätzen und auch die Arbeit, die unser Überleben sichert. Denn tausende Menschen im Nachkriegsdeutschland lebten mit etwa 700 Kalorien am Tag an der Existenzgrenze. Vor allem in den größeren Städten und Ballungsgebieten konnten die vorgeschriebenen Rationen von 1500-1700 Kalorien nicht eingehalten werden. So mussten tausende Menschen mit Hungerödemen behandelt werden, Kinder litten massiv an Untergewicht und starben oft in den ersten Lebensjahren. Erst Anfang 1950 begann sich die Lage langsam zu verbessern, doch die Menschen die diese Hungersnot miterlebt hatten, werden wohl nie vergessen was es bedeutet, ausreichend Nahrung zu haben.