von Suhail Halabi

Der Kindelsberg, Wahrzeichen der Stadt Kreuztal, ist aufgrund seiner Abbildung auf der „Krombacher Bierflasche“ fast auf der ganzen Welt zu bestaunen.

Viele Sagen ranken sich um ihn. Eine der bekanntesten, „Der Untergang der Kindelsburg“, berichtet von einem mächtigen Ritterschloss, welches einst den hohen Bergkegel schmückte.
Tugendhaft und hoch angesehen seien seine Ritter gewesen – alle,  bis auf einen, dessen Name nicht überliefert ist. Rittertugenden waren ihm fremd, und im Verlauf der Zeit verdrängte die Sünde das einst sittenstrenge Leben auf der Burg. Dies blieb Gott nicht verborgen, und er beschloss, den Missetäter und seine Anhänger zu bestrafen. In seiner Güte unternahm er noch einen letzten Versuch, jenes grausige Schicksal abzuwenden. Doch als seinem Boten nur Spott und Schmach widerfuhr, ließ er dem Verhängnis freien Lauf.  Flammen züngelten aus der Erde und entfachten ein riesiges Feuer, welches die einst stolze Ritterburg lichterloh brennen ließ. Mit einem Unheil verkündenden Krachen zerbrach das feste Gestein unter der Burg, die Erde öffnete sich und die Kindelsburg wurde samt ihrer Bewohner von ihr verschlungen.

Soweit die Sage über die Kindelsburg. An der Stelle, wo seit dem Jahre 1907 ein 22 Meter hoher Turm mit Aussichtsplattform empor ragt, soll sich also in vergangenen Zeiten eine beeindruckende Ritterburg befunden haben. Das war wohl auch ein Grund für den damals 23- jährigen und ortsansässigen Archäologen Heinz Behagel,  sich im Jahre 1933 auf den Weg zu machen, um den Geheimnissen des Kindelsberges auf die Spur zu kommen.

Auf all diejenigen, die sich einen Funken Wahrheit an den Sagen um die Kindelsburg erhofften, mussten seine Funde jedoch ernüchternd wirken – auch wenn seine Ausgrabungen nicht erfolglos waren, ganz im Gegenteil. So fand er die teilweise gut erhaltenen Überreste einer ca. 270 Meter umfassenden, ovalen Wallanlage. Doch laut seiner Einschätzung handelte es sich nicht um eine mittelalterliche Ritterburg, sondern vielmehr um einen wahrscheinlich von Kelten errichteten Schutzwall aus den Jahren um 500 vor Christus. Vier vergleichbare Funde in Südwestfalen, wie zum Beispiel die Burgen in Obernau oder auch Niedernetphen, untermauerten seine Annahme. So blieb für Behagel kein Zweifel bestehen, dass sich auch die Wallanlage auf dem Kindelsberg, wenn auch als kleinste ihrer Art, in einen planmäßig angelegten Festungsgürtel der Kelten einreihte, welcher das erzreiche Siegerland vor Übergriffen der Germanen schützen sollte.

Die Wallanlage war wahrscheinlich so beschaffen, dass sich Angreifer erst über eine steile Böschung hinauf schlagen und danach eine ca. 1,50 m hohe Bruchsteinmauer überwinden mussten. Um die Mauer zu verstärken, wurde der Bereich zwischen ihr und dem im Burginneren gelegenen Hang mit Erdmaterial aufgeschüttet, welcher seinerseits mit einer weiteren Trockenmauer vor Witterungen geschützt wurde.

Aufgrund des Fundes eines vermeintlichen Wallübertrittes (schmaler Durchbruch durch die Wallmauer) und den offensichtlich fehlenden Anzeichen eines vorhandenen Tores ging Behagel davon aus, dass sich das Burginnere nicht für den Verkehr von Karren und Vieh sowie für den Daueraufenthalt größerer Menschenmengen eignete. Wohl aber ließen Funde wie z. B. die ca. 50 cm  in den Fels eingelassene und 2,50 m im Durchmesser mesende Abfall- oder Kellergrube auf eine Art Festungskommandantur schließen, welche als ständiges Wachkommando im Inneren der Burg lag.

Durch die Funde der Ausgrabungen Behagels schien sich der Mythos um die Kindelsburg zu verflüchtigen: Kelten statt Ritter und ein kleiner Ringwall anstelle einer prunkvollen Burg.

So blieb es für Jahrzehnte ruhig um den Kindelsberg – jedoch nicht auf ihm. Baumaßnahmen im Jahre 1950 hatten die Errichtung einer kleinen Blockhütte als Resultat, welche im Jahre 1968 zu einer größeren Gaststätte umgebaut wurde. Als im Jahre 1989 weitere Umbaumaßnahmen fällig wurden, hatte das eine archäologische Voruntersuchung der – wie vermutet wurde – größtenteils zerstörten Westseite des Berges zur Folge. Diese sollte der Archäologe Phillip R. Hömberg vom Westfälischen Museum für Archäologie (Außenstelle Olpe) leiten.

Seine Ausgrabungen entsprachen weitgehend den Befunden Behagels. Hierzu wurde ein 17,5 m langer und 1,5 m breiter Suchschnitt angelegt, bei dem man erneut auf die Trockenmauer stieß. Zur allseitigen Überraschung lag sie auf der Westseite deutlich tiefer als angenommen, was auf ein ursprüngliches, steileres Abfallen des Kindelsberges auf  jener Seite deutete - und die durch Umbaumaßnahmen befürchteten Schäden gering hielt.

In den darauf folgenden Baustellenbeobachtungen konnte indes die Existenz eines Tores im Süden der Anlage festgestellt werden. Leider sicherte auch Hömberg keine Funde, die eine genauere Datierung ermöglichten. Aufgrund neuerer Erkenntnisse in der Forschung seit dem Jahre 1933 und dem Vergleich von Analogien zu anderen Burgen konnte sich Hömberg allerdings nicht vorbehaltlos den Thesen Behagels zum Alter der Anlage anschließen.

Im Vergleich zu anderen Burgen, welche eindeutig der vorrömischen Eisenzeit zugeordnet werden konnten, fehlten Hömberg unweigerlich wichtige Parallelen zu den Funden auf dem Kindelsberg: Insbesondere die nicht vorhandene Terrassenbefestigung, die Art der Trockenmauer sowie die geringe Größe entsprachen keineswegs den typischen Merkmalen eines keltischen Ringwalles. Gab es also doch einst ein stolzes Rittergeschlecht samt Burg auf dem Kindelsberg? Vermutlich schon, zumindest wenn man den Ausführungen Hömbergs Glauben schenken mag. So fällt sein Blick automatisch auf die zweite große Periode des Burgenbaus in Westfalen, nämlich jene des frühmittelalterlichen 8. bis 10. Jahrhunderts. In jener Zeit begannen die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Franken und Sachsen, was den Bau einer Burg auf dem Kindelsberg ausgelöst haben könnte. Im Vergleich zu anderen Burgen aus dieser Epoche weisen die Funde auf dem Kindelsberg jedoch kaum Parallelen auf. So wurden z.B. weder typische Holz-Erde-Mauern noch Anzeichen für die bekannten westfälischen Zangentore gefunden. Das sind Gründe, die eine Zuordnung  in diese Zeit ausschließen.

Ringwälle, wie der auf dem Kindelsberg, seien allerdings nicht nur typisch für die Ur- und Frühgeschichte. Vergleichbare Anlagen, wie z.B. die drei kleinen Burgen bei Medenbach oder die Hünenburg, ließen sich auch auf das hohe Mittelalter (ca. 11. bis 12. Jahrhundert) und auch auf noch jüngere Perioden der Geschichte datieren. Darüber hinaus fände man bei ihnen im Vergleich mit dem Ringwall auf dem Kindelsberg zahllose Übereinstimmungen. Wenn man dabei noch den geschichtlichen Hintergrund im Auge behält, könnte man annehmen, dass es sich um eine frühe kölnische Burg gehandelt haben mag. Diese könnte infolge der Auseinandersetzungen des kölnischen Erzbischofs mit dem Grafen von Siegen-Nassau (wegen der Streitfrage um dieHerrschaftsrechte im nördlichen Siegerland) erbaut worden sein.

Unterstrichen wird Hömbergs These durch einen kürzlich aufgefundenen Eintrag in einer Archivalie der Kölner Erzbischöfe. In diesen Aufzeichnungen aus den Jahren 1340–1350 ist zwar die Rede vom Kindelsberg, jedoch nicht mehr von einer Verteidigungsanlage darauf. Daraus lässt sich schließen, dass jene schon verfallen gewesen sein muss. Dieser Fund stützt Hömbergs Einordnung der Mauerreste auf dem Kindelsberg in die Zeit des Hochmittelalters.

Letztendlich bleibt das genaue Alter des Ringwalles auf dem Kindelsberg ungewiss – eine Tatsache, die zumindest den Glanz seiner Sagen bewahrt.

Literatur:

Behagel, Heinz. Die Ausgrabungen auf dem Kindelsberg. 1933.

Hömberg, Phillip. Der Kindelsberg, Stadt Kreuztal, Kreis Siegen-Wittgenstein, in: Altertumskommission für Westfalen (Hrsg.). Frühe Burgen in Westfalen Heft 13. 1998. S. 1–15.

Schrey, Gerhard. Der Untergang der Kindelsburg, in: SGV – Bezirk Siegerland (Hrsg.). Zum 75jährigren Bestehen des Kindelsberg-Turmes. Der Kindelsberg, Sage und Wirklichkeit. 1982. S. 8 f.

Tröps, Dieter. Die Ersterwähnung des Namens Kindelsberg in spätmittelalterlichen Aufzeichnungen der Kölner Erzbischöfe, in: SGV – Bezirk Siegerland (Hrsg.). 100 Jahre Kindelsbergturm, Festschrift zum Jubiläum.  2007. S. 15 f.