„Eigentlich hatte ich eine schöne Kindheit …“ –
Ein Leben auf dem Hackenberg
von Anna Milena Ley
Bergneustadt (bis 1884 Neustadt) gehört zum Oberbergischen Kreis. Neben der Kernstadt Bergneustadt gibt es u.a. den Ortsteil Hackenberg, der zwischen der Kernstadt und der Aggertalsperre liegt, sowie den Ortsteil Wiedenest, der etwa fünf bis zehn Autominuten vom Hackenberg entfernt liegt.
Ida wurde Anfang 1940 als Einzelkind geboren, und als sie neun Jahre alt war, kehrte ihr Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Danach zogen sie aus dem Haus auf dem Hackenberg in Bergneustadt, in dem sie jahrelang mit ihrer Mutter gelebt hatte, nach Wiedenest in das Haus der Großeltern väterlicherseits.
Idas Patenonkel, der Bruder ihres Vaters, arbeitete in der Firma Ising (MEI), die von 1910 bis 1970 in Bergneustadt Fotoapparate, Foto- und Kinozubehör herstellte. Bekannt wurde die Firma vor allem durch die „Pucky“ Boxkamera (vgl. Heimatmuseum Bergneustadt 2010). Eine „Pucky“ bekam Ida später auch von ihrem Patenonkel zur Konfirmation geschenkt.
Über seinen Bruder kaufte Idas Vater einen Fotoapparat und dokumentierte zusammen mit Idas Mutter, Freunden und Verwandten Idas Kindheit, aber auch seine Zeit im Krieg.
In diesem Beitrag geht es um die Frage, wie Ida die 1940er Jahre in Bergneustadt erlebt hat, und wie sie heute darüber denkt. Die Zitate von Ida sind kursiv. Zur Illustration wurden Bilder aus dem Stadtarchiv Bergneustadt und die oben erwähnten Fotos von Ida verwendet.
Von links nach rechts: Idas Mutter, Idas Patenonkel, Idas Vater, eine Nachbarin und Freundin der Familie, Idas Großmutter und Großvater väterlicherseits |
Ida mit ihrem Vater |
Ida im Alter von fünf Monaten mit ihrer Mutter |
Über die Entwicklung Bergneustadts und des Hackenbergs bis zum Zweiten Weltkrieg berichtet das Stadtarchiv Bergneustadt:
„Nachdem im Jahr 1301 die Ritter des Grafen von der Mark … die Neustadt gründeten, bewohnten in den nachfolgenden Jahrhunderten Menschen den Hackenberg, die mehr schlecht als recht von Ackerbau und Viehzucht lebten, während die Neustadt zu einer wirtschaftlich und kulturell bedeutsamen Stadt heranwuchs. Große Veränderungen erfuhr der Ortsteil Hackenberg mit seinen ca. 50 Häusern bis Ende des 2. Weltkriegs nicht.“ (Funke 2011)
Ida erzählt, dass auch sie damals mit ihrer Mutter auf einem kleinen Bauernhof lebte, oder besser gesagt, auf einem „Bauernhöfchen“, wie sie es nennt.
Insgesamt gab es zwei Kühe, ein Schwein, mehrere Hühner und Kaninchen. Im Garten wurde allerlei angebaut, z.B. Getreide, das zur Mühle, dann zum Bäcker gebracht und schließlich in Leienbach abgeholt wurde.
Ihre Mutter baute Tabak an, trocknete und verarbeitete ihn. Der Tabak wiederum wurde den Bauern, die einen Pflug besaßen, als Trinkgeld für die Bestellung des Ackers gegeben.
„Du musst, bedenken, meine Mama, die hatte einen riesigen Garten und die hat alles eingekocht. Wir hatten die Kühe, wir hatten das Schwein, wir hatten Hühner, deshalb hatte ich immer etwas zu essen. Das ist nicht selbstverständlich.“
In Erinnerung geblieben sind ihr vor allem die Tiere. Als ihr Vetter aus der Stadt, der mit dem Landleben weniger vertraut war, zu Besuch kam, lockte sie ihn in den Schweinestall und schloss aus Spaß die Tür.
Vor allem aber waren es die Kühe, die Ida am Herzen lagen. Sie sagt:
„Die Kuh war meine Freundin, die hatte auch so nette Augen, der habe ich meine Probleme erzählt, die hat mich immer ganz lieb angeschaut und dann hat sie von mir einen Apfel bekommen oder so, eben was ihr gefallen hat“.
Die Mutter von Ida setzt sie auf eine der Kühe |
Ida im Alter von ca. zwei Jahren |
Ida mit ihrer Mutter und einigen Hühnern |
Idas Vater und die Nachbarin (rechts) bei der Feldarbeit |
Idas Eltern mit Ida bei der Feldarbeit (links) und die Nachbarin (rechts) |
Ida erzählt, dass der ganze Hackenberg mit ähnlichen Häusern besiedelt war, ein Bauerndorf eben. Sie erinnert sich aber auch daran, dass ihre Mutter regelmäßig in zwei Tante-Emma-Läden einkaufte.
Das eine Geschäft wurde nach dem Namen der Inhaberin „Hertas Jäger“ genannt. Das andere Geschäft wurde von den beiden „Jägers Frauen“ geführt, zwei Schwestern, die interessanterweise nicht näher mit Herta Jäger verwandt waren.
Ida hat auch einmal selbst versucht, bei „Hertas Jäger“ Lakritze zu kaufen. Sie hatte jedoch kein Geld und ließ die Lakritzen mit dem Vermerk „Das bezahlt die Mama“ anschreiben. Als die Mutter davon erfuhr, war sie über diese Art der Bezahlung weniger erfreut.
Zur Infrastruktur des Hackenbergs in den 1940er Jahren kann folgendes festgehalten werden:
Ab 1894 gab es eine Freiwillige Feuerwehr, zwei Jahre zuvor wurde ein bis heute bestehender Turnverein gegründet (Vom Stadtarchiv zur Verfügung gestellter Text zur Stadtteilgeschichte), der ab 1930 über einen Turnplatz „Auf dem Löh“ verfügte und nach dem Krieg ab 1946 wieder aktiv wurde (vgl. Grimberg et al. 2020, S.7-10).
Zudem gab es ab 1911 einen Männergesangverein, ab wann und in welchem Umfang dieser in der Nachkriegszeit aktiv war, ist nicht bekannt. Darüber hinaus gab es eine Jugendherberge auf dem Hackenberg, die 1931 eingeweiht wurde (Vom Stadtarchiv zur Verfügung gestellter Text zur Stadtteilgeschichte).
Die Wasserversorgung erfolgte für den Ortsteil durch die 1907 gegründete Wasserleitungsgenossenschaft Hackenberg - Leienbach. 35 Hausbesitzer waren bei der Beschlussfassung anwesend, ab den Jahren 1908/1909 gab es dann fließendes Wasser für Leienbach und Hackenberg.
Dafür wurde ein künstlich angelegtes Wasserbecken mit Pumpe im Berghang an der nahegelegenen Talsperre gebaut. Das Wasser wurde in einen kleinen Hochbehälter gepumpt und im Anschluss auf die Wohnhäuser verteilt. Der Anschluss an das Stromnetz erfolgte ab 1920, wobei anfangs insgesamt 40 Häuser auf dem Hackenberg und 14 Häuser in Leienbach mit Strom versorgt wurden (vgl. Zwinge 2015, S.8 ff.).
In einem Artikel, der sich u.a. mit den frühen 60er Jahren auf dem Hackenberg beschäftigt, wird erwähnt, dass es bereits zwei kleine Lebensmittelgeschäfte gab (vgl. Funke 2011). Über die Jahrzehnte zuvor, die Gründung dieser Geschäfte oder dergleichen sind keine Unterlagen vorhanden. Jedoch liegt die Vermutung nahe, dass sich Ida auf diese beiden Geschäfte bezieht.
Der Vater von Ida war vor dem Krieg als Diakon in psychiatrischen Anstalten und in Krankenhäusern tätig.
„Mein Papa war auch kirchlicher Diakon, der hat Krankenpflege, Predigtdienst und Verwaltungswesen gelernt.“
Eine Arbeitsstelle des Vaters |
Krankenzimmer |
Diakone vermutlich in der Krankenpflege (Vater von Ida, letzte Reihe, dritter von rechts) |
Während des Krieges war Idas Vater als Sanitäter in Russland.
„Er wollte nicht zu den Soldaten, mein Vater war ja ganz fromm und auf Menschen zu schießen war für ihn unvorstellbar, auch deshalb war er froh, bei den Sanitätern zu sein.“
Außerdem verbrachte er mehrere Jahre in Kriegsgefangenschaft. Kein Einzelschicksal und ein zentrales Thema für die deutsche Bevölkerung, insbesondere für die Angehörigen und Vermissten in der Sowjetunion.
Nach den Fotos von Ida zu urteilen, wurde er eingezogen, als Ida etwa zwei Jahre alt war, so dass Ida und ihr Vater sich während eines Großteils ihrer Kindheit nicht sahen oder Kontakt zueinander hatten. Hinzu kam, dass sie die ganze Zeit über im Ungewissen war, wie es ihrem Vater ging und ob er überhaupt noch am Leben war.
Von rechts nach links: Letztes gemeinsames Foto mit Idas Mutter, Ida und ihrem Vater während des Fronturlaubs. Vermutlich handelt es sich bei den beiden Personen auf der linken Seite um ihren Vetter Konrad und ihre Tante Anne. |
Ida und ihr Vater auf dem Weg nach Wiedenest, letztes Foto der beiden vor der Kriegsgefangenschaft |
„Der Papa musste wieder an den Zug, der ihn an die Front brachte, und die Mama hat gesagt: ‚Ich kann nicht mit, ich muss so viel weinen.‘ und meine Mutti, die war schon nicht von schlechten Eltern.“
Erst im Nachhinein erfuhr sie, dass ihr Vater seine Papiere, die ihn als Sanitäter auswiesen, verloren hatte, was seine Rückkehr erheblich erschwerte. Ihre Mutter beschreibt sie in diesem Zusammenhang als eine hartnäckige Frau, die immer wieder bei verschiedenen Stellen, insbesondere beim Deutschen Roten Kreuz, versuchte, etwas über den Verbleib ihres Mannes zu erfahren, jedoch waren mangelhafte behördliche Auskünfte ein allgegenwärtiges Problem für viele Angehörige (vgl. Kolwes 2021, S.47 ff.).
Idas Vater in Uniform |
Kriegslazarett |
Einsatz von Kamelen (Gebiet und Grund unbekannt, die Fotos wurden in die Alben mit anderen Kriegsbildern einsortiert und stehen vermutlich in Zusammenhang) |
Krankenschwestern und Soldaten |
Idas Vater im Krieg (zweiter von links) |
Wie schaffte es Idas Mutter, all diese Aufgaben wie Haushalt, Erziehung, Bewirtschaftung des Hofes und Einkaufen ohne Transportmittel finanziell und zeitlich ohne die Unterstützung von Idas Vater zu bewältigen?
Ida erzählt vom starken Zusammenhalt und der gegenseitigen Unterstützung zwischen Familienmitgliedern und der direkten Nachbarschaft.
Freundinnen, Verwandte und Nachbarn von Ida und ihrer Mutter |
Generell gab es durch den Krieg kaum noch Männer vor Ort, und so wohnten Ida und ihre Mutter bei einer Freundin von Idas Mutter, deren Mann bereits verstorben war, und ihren beiden Töchtern Marianne und Luise. Außerdem kamen jeden Tag ihre Nachbarin und Tante namens Anne, die Schwester ihrer Mutter, und ihr drei Jahre älterer Vetter Konrad vorbei.
Darüber hinaus hatte Tante Anne ein kleines Mädchen namens Grete von Verwandten bei sich aufgenommen, da Gretes Heimatstadt Dortmund im Jahr 1943 durch zahlreiche Bombenangriffe der Alliierten zu großen Teilen zerstört worden war (vgl. Borstel 2016, S.10).
„Gretes Mama ist bei einem Bombenangriff gestorben und Tante Anne hat Grete aufgenommen, damit die nicht ins Heim musste.“
Gretes Vater lebte zwar noch, war aber u.a. wegen seiner Arbeit und der damaligen Verhältnisse in Dortmund nicht in der Lage, sie allein großzuziehen.
„Grete ist das Kind von Tante Annes und meiner Mamas Vetter, einmal kam er zu Besuch und war für uns Kinder als Nikolaus verkleidet, und als die alten Frauen ihn auslachten, hat er nicht uns Kinder, sondern die Frauen mit der Rute verjagt.“
Von links nach rechts: Vetter Konrad, Grete und Tante Anne |
Aufgrund der Tatsache, dass Tante Anne von Geburt an nur einen Arm hatte, entwickelte sich die folgende Arbeitsteilung: Tante Anne kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder, Ida unterstützte sie. Die Mutter von Ida versorgte die Familie und kümmerte sich um den Hof.
„Die Tante Anne hatte zwar nur den einen Arm, aber sie war Kunstgewerblerin, die hat ganz tolle Sachen gestickt, auch so Blusen aus ganz dünnem Stoff.“
Das einzige bekannte Porträt von Tante Anne, auf dem beide Arme deutlich zu sehen sind. Sie trägt eine Schiene und einen Handschuh, die keinen praktischen Zweck haben und nur dazu dienen, den unvollständig ausgebildeten Arm zu verbergen. |
Haus in Bergneustadt Hackenberg, in dem Konrad, Grete und Tante Anne wohnten |
Haus in Bergneustadt Hackenberg, in dem Ida und ihre Mutter wohnten |
Von links nach rechts: Ida, ihre Mutter und Tante Anne |
Von links nach rechts: Konrad, Ida und Grete |
Ida erinnert sich auch daran, dass nicht nur Grete und ihre Eltern, sondern fast die gesamte Familie mütterlicherseits aus Dortmund, genauer aus dem Dortmunder Stadtteil Hörde, stammte und lebte.
Eine weitere Herausforderung für Idas Mutter, da es keine Informationen über einen landwirtschaftlichen Hintergrund der Familie mütterlicherseits gibt. – Im Gegenteil: Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Dortmund mit dem Beginn der Kohleförderung und der Stahlproduktion zu einer Großstadt, die von der Großindustrie geprägt wurde (vgl. Borstel 2016, S.8).
Onkel und Tanten von Ida aus Dortmund (in der ersten Reihe ganz rechts ist Idas Großmutter mütterlicherseits zu sehen) |
So kam es, dass Idas Mutter – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – neben ihrer Kernfamilie zusätzlich die Verwandtschaft aus der Großstadt mit Essen versorgte.
„Die Männer kamen mit dem Fahrrad aus Dortmund und haben Kartoffeln geholt, so viel, wie man halt auf ein Fahrrad laden konnte, haben sie von meiner Mutter auch gekriegt.“
Dieses neue hohe Maß an Verantwortung und die geforderte Selbstständigkeit beeinflussten bestehende Rollen- und Geschlechtervorstellungen (vgl. Kolwes 2021, S.73 ff.). Trotz gegenseitiger gemeinschaftlicher Unterstützung ist es wahrscheinlich, dass vor allem die Mutter von Ida von diesem neuen Einfluss betroffen war.
Der Krieg wirkte sich aber auch in anderer Weise auf das tägliche Leben aus. Tragische Ereignisse wie der Tod von Freunden ihres Vetters, die Munition und Bomben fanden und damit herumspielten. Außerdem gab es Hausdurchsuchungen nach versteckten Soldaten und die Familie musste sich bei Bombenangriffen im Keller verschanzen.
„Die Amerikaner, die uns damals besetzt hatten, sind in die Häuser gegangen und haben nachgesehen, ob man Soldaten versteckt hatte. Haben aber keine gefunden, weil wir keine versteckt hatten.“
Ein Erlebnis ist Ida besonders in Erinnerung geblieben. Ida erzählt, dass Tiefflieger damals die Aggertalsperre zerstören wollten, aber auch auf Häuser geschossen haben.
Eines Tages saß Ida mit ihrer Mutter in der Küche und diese flocht ihr Zöpfe. Plötzlich zog ihre Mutter sie aus der Küche in den Flur und in diesem Moment wurde das Küchenfenster zerschossen.
„Ich wäre tot, wenn ich noch in der Küche gestanden hätte – die hätten mir in den Kopf geschossen.“
Der kürzeste Weg vom Hackenberg zur Aggertalsperre beträgt etwa einen Kilometer, gleichzeitig ist der Hackenberg einer der höchsten Punkte im Umkreis der Talsperre. Bei der Aggertalsperre handelt es sich ebenfalls um die bereits erwähnte Talsperre, die unter anderem für die Wasserversorgung des Hackenbergs zuständig war (vgl. Zwinge 2015, S.9).
Das Stadtarchiv hat zur Talsperrengeschichte den folgenden Bericht herausgegeben:
„Nachdem im Verlauf des Jahres 1943 die anglo-amerikanische Luftüberlegenheit immer drückender wurde … war auch das Oberbergische am 1.12.1943 erstmals einem größeren Bombardement ausgesetzt. Deshalb wurden für die Talsperren wirksamere Schutzmaßnahmen getroffen. Eine Flak-Abteilung wurde in die Region verlegt …
… Ab dem Sommer 1944 wäre es den Alliierten ein leichtes gewesen, die Aggertalsperre zu zerstören. Ob im weiteren Kriegsverlauf die Sperre an Priorität verlor und man deshalb in dem engen, bewaldeten Berggelände den Einsatz der für den Torpedo-Abwurf notwendigen schweren, tieffliegenden Spezial-Bomberflugzeuge nicht mehr riskieren wollte, oder ob man die Talsperre für später zu erhalten gedachte, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wurde sie bis Kriegsende nicht mehr angegriffen.
Dafür drohte der Aggertalsperre von deutscher Seite äußerste Gefahr. Aufgrund von Hitlers sogenanntem Nero-Befehl der ‚verbrannten Erde‘ vom 19.3.1945 – den vorrückenden alliierten Truppen sollte nur unbrauchbare Infrastruktur in die Hände fallen … Am Hackenberger Talhang legte man einen Bunker an, und am Fuße der Mauer wurde ein ganzer Berg von 250-kg-Bomben, wieder scharf gemachte Blindgänger aus dem bombardierten Wuppertal, dazu Tonnen von Sprengstoff gelagert.“ (Rath o. J., S.13 ff.)
Aggertalsperre um 1932 (Stadtarchiv Bergneustadt) |
Es gab aber auch Momente und Ängste in Idas Leben, die eher einer klassischen Kindheit entsprechen.
Ida ging frühmorgens in die Volksschule in der Altstadt (damals Neustadt) von Bergneustadt. Der Schulweg war für sie lang und anstrengend. Unterwegs kam sie an einem Löschteich vorbei, vor dem sie sich fürchtete, weil die Enten mit ausgebreiteten Flügeln und offenen Schnäbeln auf sie zukamen.
Außerdem war ihr die Schule mit dem großen Pausenhof und den vielen anderen Kindern, die sich untereinander schon kannten, ungewohnt und fremd.
„Ich ging zur Schule in Neustadt bei der Kirche, die Schule hat mir Angst gemacht, denn das war ein großer Schulhof mit vielen Kindern, die rumrannten und schrien. Ich war das nicht gewöhnt.“
Das Stadtarchiv bemerkt zum Schulwesen und zum Straßennetz folgendes:
„… Bergneustadt war nur über die schlecht ausgebaute Bergstraße und über die sehr steile Verbindung vom Ortskern Hackenberg über die Straße Räschen und den steilen Hackenberger Weg durch die Altstadt zu erreichen. Kindergarten, Schule und Arbeitsplatz in Bergneustadt mussten meist zu Fuß oder mit eigenem Fahrzeug erreicht werden …
… Im Jahr 1875 wurde auf dem Hackenberg eine einklassige Schule eingerichtet. Die Schülerzahl betrug damals 58, stieg 1876 auf 72, schwankte in den folgenden Jahren auf und ab, um dann im Jahr 1925 auf 14 Schüler herabzusinken. Geschlossen wurde die Schule im Jahre 1939 bei einer Schülerzahl von 29. Das bedeutete, dass die Kinder nach Bergneustadt in die Schule mussten.“ (Funke 2011)
Nach der Schule ging sie nach Hause, aß zu Mittag und machte dann ihre Hausaufgaben. Danach half sie ihrer Tante Anne im Haushalt und deckte den Tisch mit Blumen für den Nachmittagskaffee der Erwachsenen, wenn ihre Mutter nach ihrem Mittagsschlaf aufstand.
Dann spielte sie viel draußen, meist mit ihrem Vetter Konrad und den anderen Kindern Verstecken und Fangen. Außerdem hat sie viel gesungen.
Darüber hinaus war der christliche Glaube, der regelmäßige Besuch der evangelischen Kirche in der Altstadt und der Kontakt zu anderen Kirchenmitgliedern von großer Bedeutung für das Alltagsleben der Familie. Lieder aus dieser Zeit, vor allem die alten Kirchenlieder, singt sie noch heute gerne.
„Ich bin als Kind fromm erzogen worden. Meine Oma war auch fromm, hatte viel Kontakt mit dem Pastor und seiner Familie.“
Idas erstes Weihnachten im Kreise ihrer Familie und Freunde |
Bild der evangelischen Kirche in der Altstadt von Bergneustadt (Stadtarchiv Bergneustadt) |
Die gemeinsame Zeit mit ihrer Familie bzw. ihrem unmittelbaren Umfeld und den anderen Kindern beschreibt sie als das Beste in ihrer Kindheit. Ihre Tante Anne betitelt sie als ihre „Vize-Mama“ die Ida „… immer behütet hat.“, und die anfangs unterernährte Grete liebevoll aufpäppelte. Zudem erzählt Ida von der freundlichen und liebenswürdigen Art ihres Vetters.
„Konrad war lieb, den habe ich gezickelt, weil ich den aus seiner Reserve, aus seiner liebevollen Art, rausholen wollte ... Dann hat er tausend Mal zu mir gesagt: ‚Ida, pass auf, ich werd dich haun!‘, aber er hat mich nie gehauen.“
Über sich selbst sagt sie „Ich war immer ein Mensch der Familie gebraucht hat.“
Ida und Konrad |
Ida mit Konrad, Marianne und Luise auf einem Schlitten |
Bei einer anderen Fahrt mit dem Schlitten ist im Hintergrund Konrad mit seinen Skiern zu sehen |
Ida und Konrad mit Kindern aus der Nachbarschaft |
Sie beschreibt ihre Kindheit als eine schwierige Zeit, in der sie aber gut zurechtgekommen sind und schließt ihre Erinnerungen mit dem Satz „Eigentlich hatte ich eine schöne Kindheit und Jugend.“
(2024)
Anmerkungen:
Vielen Dank an die Mitarbeiter*innen und engagierten Bürger*innen der Stadt Bergneustadt für ihre Unterstützung und die Bereitstellung von Bildern und Infomaterial.
Ein herzliches Dankeschön auch an Ida für die Bereitstellung ihrer Bilder und das Interview.
Die Namen aller in diesem Beitrag genannten Personen wurden geändert.
Quellen:
Borstel, Dierk (2016): Dortmund – eine Einführung in die Stadtgeschichte. In: Borstel, Dierk; Fischer, Ute (Hrsg.): Stadtgeschichten – Soziales Dortmund im Spiegel von Biografien. Wiesbaden, S.7-20.
Funke, Thomas (2011): Von der ersten Besiedlung bis in die 60iger Jahre. URL: https://archiv-bergneustadt.de/von-der-ersten-besiedlung-bis-in-die-60iger-jahre [Letzter Zugriff: 02.01.2024].
Grimberg, Andreas et al. (2020): 125 Jahre Sport im Stadtteil - Die Geschichte des TV Hackenberg 1891 e. V. Bergneustadt.
Heimatmuseum Bergneustadt (2010): „Bitte recht freundlich!“ Fotoapparate 1890 -1960. URL: https://www.heimatmuseum-bergneustadt.de/fileadmin/sonstiges/downloads/Bitte_recht_freundlich.pdf [Letzter Zugriff: 07.02.2024].
Kolwes, Ann-Kristin (2021): Die Frauen und Kinder deutscher Kriegsgefangener. Integriert, ignoriert und instrumentalisiert, 1941-1956. Bielefeld.
Rath, Dieter (o. J.): Die Agger – Lebensader unserer Heimat. URL: https://www.archiv-bergneustadt.de/fileadmin/publikationen/archiv/Die_Geschichte_der_Aggertalsperre_4.pdf [Letzter Zugriff: 02.01.2024].
Zwinge, Michael et al. (2015): Hackenberg hoch. hinaus. Bergneustadt.